K. Pawelka: Oktoberrevolution – Putsch oder Aufstand?

Bolschewismus & Russische Revolution

Fernab der teilweise unseriösen Historikerdebatte in Frankreich ums “Schwarzbuch” veröffentlichen wir hier (leicht überarbeitete)Auszüge einer Kritik am Bolschewismus. Einserseits geht sie davon aus, daß eine korrekte Einschätzung der Oktoberrevolution nur aus der damaligen Situation in Rußland erfolgen kann. Die Entartung der Revolution war in der Folge bloß eine Zukunftsvariante unter anderen – wie z.B. die Ausweitung der Revolution auf Deutschland, was eine Bürokratisierung in Rußland stark gehemmt hätte. Auf letzteres hatten die Bolschewiki gesetzt, aber der Autor dieser Arbeit aus “ergebnisse & perspektiven” Nr.11/1993 (die theoretische Zeitung der “alten” Internationalen Kommunistischen Liga)sieht auch in Lenin und Trotzki Mitverantwortliche für die bürokratischen Wucherungen in Partei und Staat, die schließlich den Beginn des sowjetischen Thermidors – der stalinistischen Diktatur – eingeleitet hatten. LabourNet-Austria würde interessante und kritische Beiträge zu diesem Artikel sehr begrüßen!
Redaktion LabourNet-Austria, März 2000
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Oktoberrevolution – Putsch oder Aufstand?
 
Für die meisten heute ist der Oktoberaufstand ein „Putsch“ – die Bolschewiki wären im Oktober weiter eine Minderheit im Lande und insbesondere in der Arbeiterklasse, kurz, die Bolschewiki seien „Putschisten“ gewesen. Die durchgehende Methode ist es, die bolschewistische Politik völlig abseits der objektiven Geschehenisse zu schildern.
 
“Einfältige” Kerenski-Regierung, “hinterhältige” Bolschewiki uäm. Indes, indem im August/September die „Konterrevolution die Revolution angepeitscht“ hatte (Marx), offenbarte sich vor den breitesten Massen endgültig die ‚Unfähigkeit‘ der Versöhnler. Während Kerenski hinter seinen Reden ‚gegen‘ Kornilow mit den konterrevolutionären Generälen um die Kapitulation verhandelte, setzten die Sowjetmenschewiken und Sozialrevolutionäre ihre – nun etwas linkere – Petitionspolitik gegenüber ihrer Kerenski-Regierung fort: für die „demokratische Republik“, für Agrarreformen. Kerensiki lehnt ab. Lähmendes Hin und Her zwischen Regierung und Exekutivbüro der Sowjets, während Kornilow marschiert …
 
Den wirklichen Widerstand gegen Kornilow organisieren ‚unten‘ – unter den ArbeiterInnen und Soldaten – die Bolschewiki. „Die Bolschewiki erhoben die Köpfe und fühlten sich völlig als Herren in der Armee. Die unteren Komitees begannen sich in bolschewistische Zellen zu verwandeln.“(Zarenoffizier Stankewitsch, in L. Trotzki, Geschichte ….,2/1) In der Flotte verschwinden ab da nicht mehr die bolschewistischen Parolen für sofortigen Frieden, für Landaufteilung auf die Bauern und für die Arbeiterkontrolle. „Die Matrosenversammlungen bestanden zu neun Zehnteln aus Bolschewiki.“(ebd.)
 
Klassenmäßige Verbindung der menschewistischen und sozialrevolutionären Führungen mit der liberalen Bourgeoise und der Entente – in den Regierungsspitzen bis hin zur zaristischen Konterrevolution; in der Sowjetführung strikte gebunden an diese „demokratische“ Regierung… Diese Konstellation mußte den Menschewismus und das sozialrevolutionäre Volkstümlertum in der sich überwerfenden Wirtschafts- und Kriegskrise aufspalten (in linke SR und „internationale“ Menschewiki), mußte sie schließlich hin zum Bolschewismus entvölkern.
 
Am Vorabend des Oktober haben wir so eine Situation, wo schließlich am 9. September die Bolschewiki erstmals eine stabile Mehrheit im Petrograder Sowjet erhielten – dem wichtigsten Sowjet in Rußland! Vorher schon gab es bolschewistische Mehrheiten in Moskau, in Finnland. Wen zählen eigentlich jene Historiker/innen, die für den Oktober eine bolschewistische „Minderheit“ im Proletariat feststellen? Hinter dieser falschen Zählweise steckt ein demokratisches Verständnis, das uns in seiner bürgerlichen Beschränktheit bei der Einschätzung des Oktoberaufstands und dann der Auflösung der Konstituante wiederholt negativ auffallen wird (siehe weiter unten genauer).
 
Was ist lebendige Demokratie?
 
Ab September ruft Lenin zum Aufstand. Zu den bolschewistischen Sowjetmehrheiten kamen noch entscheidende Radikalisierungen in der Bauernschaft gegen die Kadetten (im Vorparlament). Doch im September, Oktober geht auch die Krise weiter – Hunger, heilloses Chaos auf den Schlachtfeldern, Massendesertationen,-erschießungen. Die Wende der ArbeiterInnen- und Soldatenmassen zu den Bolschewiki war ja gerade aus ihrer Enttäuschung über die Tatenlosigkeit der Menschewisten und Sozialrevolutionäre gekommen. Eine revolutionäre Situation ist nicht von langer Dauer. Im Petrograder Proletariat zeigte sich bereits Niedergeschlagenheit. Wie würden die bäuerlichen Soldaten reagieren, wenn sich nicht unmittelbar entscheidende Veränderungen ergäben? Jähe Wechsel von Massenstimmungen könnten eintreten. Die Versöhnler standen voll gegen einen Aufstand und orientierten sich ausschließlich an der Konstituierenden Versammlung irgendwann Ende 1917. Hinter ihnen standen noch immer Teile des Proletariats und vor allem Millionen von Bauern! Und die Kosaken, Georgsritter, Offiziersschulen warteten auf ihre Chance … „Den Sowjetkongreß ‚abwarten‘ ist vollendete Idiotie, denn das heißt Wochen verlieren, Wochen und sogar Tage aber entscheiden jetzt alles. Das heißt der Machtergreifung feige entsagen, denn am 1.-2. November wird sie unmöglich sein: man wird für den Tag des so einfältig ‚angesetzten‘ Aufstands Kosaken bereithalten.“ (Lenin, Die Krise ist herangereift, LW 26) Lenin befindet sich nun auch im vollen Streit innerhalb der bolschewistischen Führung. Der Sowjetkongreß wird nochmals verschoben. 10 Tage ohne Entscheidung?
 
Am 7.November organisiert das Revolutionäre Militärkomitee den Aufstand. Entscheidend für unsere Demokratie-Debatte ist die Einschätzung des 2. Sowjetkongresses tags darauf. Von 670 DelegiertInnen sind jetzt 390 Bolschewiki! Rechte Menschewiki und Sozialrevolutionäre sprechen sich gegen den Umsturz aus. Die ‚Regierungssozialisten‘ verlassen im Tumult den Saal. Bloß rund 20% des ganzen Kongresses!. „Blickte man nun von der Tribüne auf die Delegierten im Saal, so mußte der Umstand auffallen, daß dies ein Kongreß junger Leute war.“ (M.P. Price, Die russische Revolution, Oberbaum) Junge Männer aus der Ostseeflotte, gelernte ArbeiterInnen aus Petrograd und Moskau. Ein Kongreß, der vorwiegend von Delegierten der Nord- und Mittelprovinzen beschickt war, d.h. aus den Regionen, wo sich die größte Zahl armer, halb-proletarischer Bauern befand, wo die gelernten ArbeiterInnen die Städte und die landhungrigen und fahnenflüchtigen Soldaten das Dorf beherrschten. Dem Zeitzeugen Price fiel demgegenüber auf, daß der Intellektuelle mittleren Alters, der alte Bauerntyp mit langem Bart und der typisch alte sozialistische Parteiführer fehlten.“Dieser Zweite Allrussische Rätekongreß verkörperte daher die Auflehnung der Arbeiter und armen Bauern Nord- und Mittelrußlands.“ (ebd.)
 
Es ist also jener Teil der russischen Nation auf dem 2. Sowjetkongreß vertreten, der, nun mehrheitlich bolschewistisch, die Revolution getragen hatte – eine eindeutige Mehrheit auch in der russischen ArbeiterInnenklasse! Hinter den Regierungssozialisten stehen indes proletarische Minderheiten und die breite Masse der russischen Bauernschaft, die in der Weite des Landes noch nicht von der städtischen Revolution erfaßt worden waren. Sie repräsentieren genau jene soziale Basis, aus der der konterrevolutionäre Feldzug ab 1918 rekrutieren wird. In der Auseinandersetzung um die Konstituante stoßen diese verschiedenen Logiken wieder aufeinander.
 
Der Konflikt um die Konstituante
 
Das ganze Jahr 1917 hatten die Bolschewiki ja demokratische Wahlen zu einer gesetzgebenden Versammlung gefordert. Kadetten, Menschewiki, Sozialrevolutionäre waren dagegen. Sie verschoben und verschoben die Wahlen, weil diese Konstituante den Aufschwung der proletarischen und bäuerlichen Kämpfe gegen das bürgerliche Regime der Großgrundbesitzer und Kriegsentente widergespiegelt hätte. Jetzt, im Oktober/November gab es den Sowjetkongreß, der, gestützt auf die proletarische Mehrheit und die radikalen Bauern- und Soldatenschichten, an die Macht gekommen war. Im gesamten Land waren sie ohne Zweifel eine Minderheit. „Alle Macht der Konstituierenden Versammlung“ wurde so zum Schlachtruf der rechten sozialrevolutionären und der kadettischen Presse, d.h. der Konterrevolution. Die Begleitumstände, unter denen die Wahlen dann am 28.November stattfanden, trugen noch weiter dazu bei, Rußland hinter die Sowjetmacht zurückzuzerren. Jetzt stimmte auch der rückständige Bauer der weit von Petrograd und Moskau entfernten Landstriche über die ArbeiterInnenrevolution ab. Und nicht nur das, dort kandidierten oft nur rechte Sozialrevolutionäre und Kadetten. Linkssozialrevolutionäre wurden zu den Rechten geschlagen, Bolschewiki gab es oft überhaupt keine.
 
Im Jänner trat die Konstituante zusammen. „Auf der Rechten und in der Mitte saßen die rechten S.R., die zusammen mit der kleinen Kadettenpartei die Mehrheit bildeten. Ihre Vertreter waren zum größten Teil alte Parteifunktionäre, die zu ihrer Zeit gestritten und gelitten hatten im Kampf gegen den Zarismus. Nun saßen sie dort, um zu versuchen, eben dieselben Kräfte zurückzuhalten, die sie in den Tagen ihrer revolutionären Inbrunst ins Dasein gerufen hatten. (…)
Auf der Linken befanden sich die Reihen der Bolschewisten und linken S.R., eine beträchtlich starke Minderheit, die ungefähr 40 Prozent aller Deputierten ausmachte. Es waren größtenteils junge Leute, entweder Arbeiter aus den Fabriken oder Soldaten von der Roten Garde. Unter den linken S.R. sah man die Gesichter der jüngeren Bauerngeneration und eine Anzahl langhaariger Intellektueller. Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß sich Jugend und Energie auf dieser Seite befanden.“(Price, a.a.O)
 
Swerdloff verlas schließlich im Namen der Sowjetexekutive die drei Plattformpunkte des Sowjetkongresses als ‚Erklärung der Rechte der Arbeitenden und Ausgebeuteten Massen‘. Die Konstituierende Versammlung sollte einen Konvent mit dem kommenden 3.Sowjetkongreß auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht bilden. Rechte Sozialrevolutionäre, Menschewisten und Kadetten beharrten jedoch auf der alleinigen Macht der Versammlung, worauf die bolschewistischen und linkssozialrevolutionären Delegierten den Saal verließen. Kurz darauf wurde die Versammlung von der Taurischen Garde im Namen der Zentralsowjetexekutive aufgelöst.
 
Linke belieben heute in diesem Zusammenhang seitenlang mit Rosa Luxemburg zu argumentieren, die sich ebenfalls gegen die bolschewistische Politik zur Konstituante ausgesprochen hatte. Das“Heilmittel“, das Trotzki und Lenin gefunden hätten – die Beseitigung der Demokratie überhaupt – wäre noch schlimmer als der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen: „Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische, politische Leben der breitesten Volksmassen.“ (Rosa Luxemburg, Zur Russischen Revolution, GW. Bd.4)
 
Wir wollen nun nicht unbedingt alles daran festmachen, daß sowohl Adolf Warszawski als auch Clara Zetkin behauptet hatten, Rosa hätte vor allem den Kritikpunkt zur Konstituante zurückgezogen. Vor dem Hintergrund von Rosas Hinentwicklung zur Position „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ in der deutschen Revolution, ist dies nicht unwahrscheinlich. Entscheidend für uns ist aber auch hier unsere heutige Wissenslage (und nicht jene von Rosa im Gefängnis!), die uns historisch-grundsätzlich hundertmal mehr dem linksbürgerlichen Journalisten Price als den chronischen Anti-Bolschewiki zustimmen läßt: „Den Konvent als eine Vertretung des gesamten Rußland zu betrachten, wäre ein Fehler, denn keine Vertretung kann es in diesen Tagen geben, deren Rahmen zwei miteinander im Krieg liegende soziale Elemente umfaßte.“ (Price,a.a.O.)
 
Der Bürgerkrieg
 
Schlag auf Schlag hätten es jetzt die Bolschewiki getrieben: Zuerst die „Ausrottung“ der linken Sozialrevolutionäre“, dann der Anarchisten… Was war wirklich geschehen?
Die Bolschewiki hatten nach dem 2. Sowjetkongreß mit den linken Sozialrevolutionären eine Koalitionsregierung gebildet (nachdem die Koalitionsverhandlungen mit den Menschewiki und SR gescheitert waren, weil diese ultimativ die neue Sowjetordnung abgelehnt und eine Regierung ohne Lenin und Trotzki gefordert hatten). November bis Juli 1918 waren in der Folge jene Zeiten, wo in den Sowjetkommissionen Bolschewiki, linke SR gemeinsam mit den Anarchisten um ‚freie Bauernkommunen‘ und ’staatliche Musterfarmen‘ gerungen und teilweise Kompromisse gefunden hatten.
 
Das war auch die Zeit der Berliner Streiks Jänner 1918, Anfang Februar Revolution in Finnland, Streiks in Österreich usw. Zugleich marschierte jedoch die deutsche Armee in der Ukraine – die russische Armee hatte sich fast aufgelöst. Die Bolschewiki sind ebenfalls zerrissen zwischen der international-revolutionären Hoffnung und der militärischen Gefahr durch den deutschen Vormarsch. Die Deutschen in Kiew! Ende Februar richtet sich die deutsche Armee gegen Petrograd! Lenin setzt sich schließlich durch, der Brest Litowsker ‚Frieden‘ wird Anfang März bedingungslos unterschrieben.
Eine wackelige Sache: Deutsche Divisionen rücken dennoch weiter vor, während Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre gegen ‚Brest Litowsk‘ und die Bolschewiki revoltieren. Den ersten Schlag gegen links führen die Bolschewiki Mitte April gegen die Anarchisten, weil diese mit Attentaten gegen imperialistische Diplomaten drohten. „Ausrottung“ ist jedoch eine maßlose Übertreibung: Das ‚Haus der Anarchie‘ in Moskau wurde geschlossen, die Anarchos wurden entwaffnet, ihre Führer kurze Zeit eingesperrt, die jungen freigelassen. Die meisten von ihnen gehen in die Ukraine, viele treten in die linken Sozialrevolutionäre ein. Im Juli unternehmen sie schließlich gemeinsam mit den Linken SR einen Aufstandsversuch gegen die Sowjetregierung. In Moskau gibt es Barrikadenkämpfe. Der deutsche Gesandte Mirbach wurde von linken Sozialrevolutionären erschossen…
 
Wiederum geht es uns darum, die Situation historisch einzuschätzen: Im Juli verteidigten die Bolschewiki die Oktoberrevolution auch gegen die Ultralinken, die unbeirrt einen Krieg mit Deutschland zu provozieren suchten. Der Fall Petrograds wäre so in Reichweite gekommen – höchstwahrscheinlich wäre das die Episode vor dem Fall des Oktober überhaupt gewesen! Bis zum Sommer 1918 spitzt sich die Lage zu. Bäuerliche Blockade und Ernährungskrise hungern die Städte aus. Arbeitergarden requirieren bei den Bauern: ‚Kriegskommunismus‘! Der Bürgerkrieg hatte begonnen. „Die meisten Grenzgebiete waren in Besitz der Weißen oder unter deutscher oder türkischer Besetzung. Die besten nahrungsmittelproduzierenden Gebiete waren größtenteils verloren oder von Zentralrußland, wo die Sowjets herrschten, abgeschnitten. Die Intervention der Alliierten hatte begonnen.“ (R.V. Daniels, Das Gewissen der Revolution, Olle&Wolter) Kulaken bis zu den kleinen Bauern und Proletariern gehen offen in das Lager der Tschechoslowaken über (= tschech. Divison aus dem 1. Weltkrieg, die 1918 gegen die Sowjets losschlugen). „Nie war die Rätemacht ihrem Sturz so nahe wie im Sommer 1918.“ (E. Preobrashensky, Ein neuer Zeitabschnitt, Russische Korrespondenz, Jg. II/1/6)
Und im September geht es weiter: Attentate auf Lenin u.a. Bolschewiki, Feuerbrünste brechen in Moskau und Petrograd koordiniert aus. Jetzt setzt der Rote Terror ein, der bis heute verdammt wird, ohne auch nur mit einem Wort etwa diese Septembertage zu erwähnen. Die Bolschewiki nehmen Geiseln aus den Reihen ehemaliger zaristischer Offiziere und Bürgerlicher. In Petrograd werden 500 willkürlich erschossen… Die Feuerleger schreckten sofort zurück. „Zieht man diese Umstände in Betracht, so ist schwer zu sehen, zu welcher anderen Waffe die Kommunisten hätten greifen können, um ihrem Willen Geltung zu verschaffen.“ (Price, a.a.O.)
 
Exzesse werden in den Bürgerkriegsjahren in einem unvorstellbaren Ausmaß auf beiden Seiten geschehen. Wir feiern sie nicht, sagen aber im vollen Gegensatz zu den Antikommunisten, daß sie dem ‚Oktober‘ von der bürgerlichen-zaristischen Konterrevolution mit Unterstützung des Imperialismus aufgezwungen wurden.
 
Bolschewistische Widersprüchlichkeit in und fernab der Klasse
 
Der 5. Sowjetkongreß, der am 8. Juli 1918 (einen Tag nach der Niederschlagung des linkssozialrevolutionären Staatsstreichs) fortgesetzt wurde, war nur mehr ein bolschewistischer Rumpfsowjet. Es war ohne Zweifel jener Kongreß, in dessen fast debattenlosen DelegiertInnenreihen das erste Mal der Geist einer Staatsbürokratie aufgetaucht war: ‚Schluß mit dem Reden – stattdessen Beschlüsse, Unterordnung!‘
 
Eingesetzt hatte dieser Zentralisierungsprozeß nach oben hin zu Staats- und Parteibürokratie eigentlich schon im März, am Höhepunkt der Brest-Litowsker Krise. Der Lenin’sche Parteiflügel (mit Trotzkis Unterstützung) forcierte ab da das Konzept der zentralen (eben bürokratisch-diktatorischen) Leitung der Betriebe. Arbeitsdisziplin, Leistungslohn, Taylorismus.  Dazu wurden die Fabrikskomitees der ArbeiterInnen zuerst unter ‚Gewerkschaftskontrolle‘ gestellt, d.h. es wurde damit begonnen, sie auszuschalten; im Juni 18 erfolgte bereits die volle Einbindung der Gewerkschaften in eine komplizierte Verwaltungshierarchie bis hinauf zum Obersten Volkswirtschaftsrat. Diese Hierarchie wird in den folgenden Monaten die umfassende Nationalisierung der Industrie durchführen: Es ist also mehr eine bürokratische Enteignung der Bourgeoisie als ein Umsturz aus einer proletarischen Bewegung heraus, was jetzt im Sommer 1918 stattfindet und die sowjetischen Republiken im vollen (ökonomischen) Umfang zum ArbeiterInnenstaat gemacht hatte!
Der entscheidende Antrieb für Lenins und Trotzkis Parteiflügel, den Weg der bürokratischen Zentralisierung zu gehen, kam sicherlich aus den Zwängen der tiefen ökonomischen Krise und gleich darauf des Bürgerkriegs. Wir unterschätzen jedoch auch nicht eine gewisse theoretische Schwäche des Bolschewismus und Lenins, die den Weg zur ’staatskapitalistischen‘ Politik schon in der ganz jungen Sowjetföderation geebnet hatte.
 
Ab Jänner/Februar 1918 – vor dem Hintergrund von dezentralisiertem Chaos in den Fabriken und ökonomischem Niedergang – gehen Lenin, Trotzki ua. in die politische Offensive zur Ausschaltung der Fabrikskomitees. Die ‚fabsawkomy‘ hatten sich im März 1917 én masse in den Fabriken als Arbeitergegenmacht zu den Bourgeois gegründet. Im Juni waren die Bolschewiki in der übergroßen Mehrheit auf ihrer allrussischen Konferenz präsent. Bald übernahmen die Komitees die Betriebe selber – allerdings weitgehend unkoordiniert, ‚chaotisch‘.
 
Die bolschewistische Linke wollte auf die Komitees gründend einen koordinierenden Volkswirtschaftsrat bilden. Im Dezember 1917 geschah dies auch – mit Unterstützung der Fabrikkomiteeführungen! Lenins Parteiflügel vertrat hingegen die Position, daß in den Betrieben die kapitalistische Verwaltungsstruktur so lange wie möglich aufrechterhalten werden sollte. Der ökonomische Niedergang hielt an. Anfang Juni hatte Lenin schließlich sein staatskapitalistisches Konzept in der Partei durchgesetzt: „… die unbedingte Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses.“ (Kongreß der regionalen Wirtschaftsräte). Ossinski, der Führer der ‚Linken‘ erklärte warnend, „daß ‚die Sowjetmacht (…) sich selbst als Diktatur des Proletariats zerstören‘ werde. Mit den anderen linken Kommunisten teilte er die Befürchtung, die Revolution könne ihrem eigenen Wesen untreu werden und die Zukunft der russischen Gesellschaft in ein ganz anderes Fahrwasser geraten, wenn die Partei nicht kraftvoll eine idealistische und proletarische Politik verfolge.“ (R.V. Daniels, a.a.O)
 
Unser historisches Engagement in diesen Auseinandersetzungen unter den Bolschewiki 1918 geht davon aus, daß ja gerade die Koalition der Fabrikskomitees mit der bolschewistischen Linken gezeigt hatte, welche ‚instinktiv‘-revolutionären Reserven im Frühjahr und Sommer 1918 noch immer in Teilen des Proletariats vorhanden waren. Über diese Reserven ist die Lenin’sche-Trotzki’sche Führung allzu bürokratisch hinweggegangen und hat die proletarische Initiativkraft geschwächt!
 
Parteidiktatur im Bürgerkrieg: zum einen ein progressiver Faktor…
 
Ohne Zweifel hatte der zu dieser Zeit bereits voll entflammte Bürgerkrieg die Konzepte der Ossinski-Linken völlig hinfällig gemacht. Die größten Teile der russischen Arbeiterklasse von 1917 waren in die Partei/Bürokratie und schließlich im Krieg aufgesogen worden. In den Fabriken montierten die ArbeiterInnen aus tiefstem sozialen Elend die Maschinen ab, um sie für Lebensmittel einzutauschen; in Städten und Gouvernments können durch massenweisen Auszug der Arbeiterbevölkerung Sowjets überhaupt nicht gebildet werden; in alle physischen Kräfte und Nerven aufzehrenden Bürgerkriegssituationen, wenn die Weißen vor Petrograd oder Moskau standen: Dort konnte oftmals nicht mehr arbeiterInnendemokratisch abgestimmt werden, sollte die ’neue Macht‘, die im Oktober bis Sommer 1918 den Kapitalismus gestürzt hatte, keine Niederlage erleiden.
 
Wir negieren auch keinesfalls die anhaltende strategische ‚Schwäche‘ Rußlands nach dem Bürgerkrieg mit immens geschwächter Industrie und zerrüttetem Proletariat, ‚umgeben‘ von bäuerlicher Kleinstproduktion, aus der sich heraus die kleinbürgerliche bis bourgeoise Macht gegen die Städte erhob. Der Hauptnutznießer der Revolution war die Bauernschaft gewesen, die nun den Städten immer wieder die Lebensmittel vorenthielt, um die Preise hochzutreiben. „Am folgenden Abend begegnete ich einem ‚meschoschnik‘, das heißt einem Menschen, der mit einem Sack auf dem Rücken zwischen der hungrigen Stadt und dem Dorf hin- und herwandert und Getreide zu Wucherpreisen verkauft (…) Die neue Sowjetmacht schuf ihm Verdruß. Er schilderte mit Entrüstung, wie ein Kommissar mit zwei Rotgardisten ihm bei einer früheren Gelegenheit seinen Sack weggenommen und ihn einen ‚Wucherer’genannt hatte (…) Genau wie die zaristische Regierung und das Regime Kerensky, so sah er nun in der Sowjetmacht ein bloßes Gegenstück zu jenen vormaligen Regierungsformen.“ (Price, a.a.O.) Und: „Inmitten dieses Wirrwarrs stieß man doch gelegentlich auf Leute, die sich bemühten, eine gewisse Ordnung in das Ganze zu bringen. Bemerkenswerterweise waren es fast stets Bolschewisten, die auf die eine oder andere Art und Weise mit dem Provinzealsowjet der Arbeiterdelegierten in Verbindung waren.“(ebd.)
 
Unter den Sachzwängen des Bürgerkriegs und der tiefen ökonomischen und sozialen Krise setzten sich die Zentralisierungstendenzen in der Industrie über die Sowjets bis in die Partei unvermeidlichdurch. Der Sowjetkongreß und sein gewähltes und abwählbares Zentralexekutivbüro übergaben die Macht dem Rat der Volkskommissare. Dessen Zusammensetzung ging schnell über in jene des Zentralkomitees der Bolschewiki. Und dort wiederum zentralisierte sich die Macht nach dem 8. Parteitag immer rasanter von den Parteitagen über das ZK ins Politbüro (das vom 8. Parteitag geschaffen wurde). „Man sagt, das Zentralkomitee hätte selbstherrlich die Partei geleitet, Genossen, vielfach wurden die weittragensten Beschlüsse im ZK von 5 Genossen telefonisch gefaßt, da die Mehrzahl der Mitglieder des ZK auf einem Kampfposten im Lande sich befand.“ (Radek auf dem 8. Parteitag). „Ich wiederhole, die Erfahrungen der siegreichen Diktatur des Proletariats in Rußland habe denen, die nicht zu denken verstehen (…) deutlich gezeigt, daß unbedingte Zentralisation und strengste Disziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Sieg über die Bourgeoisie sind.“ (Lenin, Der ‚linke‘ Radikalismus, LW Bd.31)
 
Lenins „Disziplin des Proletariats“ bedeutete spätestens ab 1919 eben Parteidiktatur über die Bourgeoisie, Kleinbourgeoisie und mehr und mehr auch über Teile des Proletariats. Wir stimmen trotzdem Lenins Einschätzung grundlegend zu, daß es nur mit unbedingter Zentralisation und strengster Disziplin, d.h. mit der Parteidiktatur möglich war, daß das Oktoberregime den Bürgerkrieg überlebte. Das ist die progressive Seite der Parteidiktatur gewesen, die somit als eine legitime Variante (aber nicht unbedingt als notwendige Etappe!) im revolutionären Prozeß zu benennen ist.
 
Die Bürokratisierung bis 1921
 
Heute, 1993, völlig abgehoben von der objektiven Krisen- und Notsituation auch der Jahre unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, können wir nur in diesem historischen Sinn, d.h. relativierend, unsere Positionen zum Streit in der bolschewistischen Bewegung anbringen. Eine solche Herangehensweise spiegelt nicht nur unsere grundlegende – klassenmäßige – Stellungnahme für die Bolschewiki wider, sondern ist im Gegensatz zur antikommunistischen Denkweise wohl auch die einzige marxistisch-wissenschaftliche Art, diese historischen Jahre einzschätzen.
 
Zu Lenins und Trotzkis Mehrheitspolitik in der bolschewistischen Partei erscheint es uns nun als wesentlich, daß ganz deutlich in den Jahren ab 1919 die bürokratische Zentralisierungspolitik immer stärkere strategische Argumentationen beinhaltet. Hauptsächlicher Ausgangspunkt für die Mehrheit mit dem Zuendegehen des Bürgerkriegs 1920 ist, daß „… die Kleinproduktion aber unaufhörlich, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie (erzeugt). Aus allen diesen Gründen ist die Diktatur des Proletariats notwendig …“ (Lenin, Der ‚linke‘ Radikalismus …) Der ‚Linke Radikalismus‘, April/Mai 1920: Gegen die ‚Gefahr der Kleinproduktion‘ perfektionierte nun die Lenin’sche-Trotzki’sche Parteiführung die Parteidiktatur: ‚Politische Abteilungen‘ werden geschaffen, wo es zur Regel wird, in der Wirtschaft, Gewerkschaft und Armee gewählte Führungsgremien einfach abzusetzen. Ebenso wird in der Partei verfahren. „Alle Beschlüsse der höheren Organe sind absolut bindend für die unteren“ (8. Parteitag)
 
Lenin und Trotzki schalten jetzt auch die Gewerkschaften von der ‚kollegialen Leitung‘ der Betriebe aus. 1920 zieht sich jedoch ein Riß durch die Mehrheitsfraktion: Die Gewerkschaftsdebatte bricht los, in der Trotzki die Gewerkschaften in den ‚Sowjetstaat`, d.h. die Parteidiktatur integrieren und sie als Instrument einer militarisierten Arbeit einsetzen wollte: Abgerüstete Soldaten unter militärischer Kontrolle in die Bergwerke … Die extremste Form der ‚kriegskommunistischen‘ Parteidiktatur. Lenins Tendenz setzt sich schließlich mit einer ‚gemäßigteren‘ Position durch, daß die Gewerkschaften als“Schule des Kommunismus“ einerseits die ArbeiterInnen vor den „Deformationen des Arbeiter- und Bauernstaats“ schützen und andererseits die Produktivität und die Arbeitsdisziplin in den Betrieben vorantreiben sollten. Dazu benötigten die Gewerkschaften eine gewisse Autonomie … eben die gemäßigtere Variante der Parteidiktatur!
 
Kronstadt und die NEP – Land und Räte ohne Bolschewiki?
 
Der Kronstädter Aufstand schloß gewissermaßen diesen krisenhaften Zyklus ab. Zu dieser Zeit breiter Bauernaufstände und proletarischer Demonstrationen in Petrograd besaß das bolschewistische Regime offenbar keine Mehrheit mehr im Proletariat (zumindest in und um Petrograd). Der Aufstand wurde bekanntlich niedergeschlagen, obwohl das Kronstädter Programm eher ein linkes-anarchistisches für neue Sowjetwahlen und gegen die bolschewistische Politik der gewaltsamen Eingriffe in das Eigentum der Bauern war (siehe Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Walter-Verlag).
Die bolschewistische Gegenpropaganda über „weiße Generäle“ in Kronstadt war lügenhaft. Unsere Gesamteinschätzung geht allerdings vorerst einmal davon aus, daß der Wegfall Kronstadts (in unmittelbarer Nähe des reaktionären Finnland) das Oktoberregime in jener tiefen Krise 1921 stürzen hätte können.
 
Das Land, die Räte – ohne Bolschewiki (späte Forderung der Kronstädter)? Wer hätte verhindert, daß dann eine ‚NEP‘ nicht gänzlich auf Kosten der städtischen ArbeiterInnenklasse gelaufen wäre und die ‚meschoschniks‘ nicht völlig die ‚Lebensmittelmacht‘ an sich gerissen hätten? Nein, dazu brauchte man „Leute, die sich bemühten, eine gewisse Ordnung in das ganze zu bringen“ – eben die Bolschewiki!
Auf dem 2. Teil des 10. Parteitages (nach der Niederschlagung Kronstadts) wurde die Einführung der Naturalsteuer beschlossen (NEP). Das bedeutete Einstellung der Requisitionen bei den Bauern, marktwirtschaftliche Zugeständnisse an sie und eben die Besteuerung der Überschüsse. Die NEP brachte zwar eine wirtschaftliche Belebung, aber stärkte zugleich die Kleinproduktion auf deren Weg zum Kapitalismus! Für eine ‚Rückkehr‘ zur Sowjetdemokratie gab es damit im Konzept der Lenin’schen-Trotzki’schen die Führung keinen Platz. In den nächsten 2 Jahren wird so, von der Führung ein innerparteiliches Regime errichtet, wo die Bürokratie mehr und mehr über der Partei zusammenwuchs. „Die Organisationen der Partei werden systematisch mit einem großen Apparat überzogen, der den Parteiorganisationen dient, der Apparat, der sich langsam ausdehnt, hat seinerseits begonnen, bürokratische Übergriffe zu machen und übermäßig viele Kräfte der Partei an sich zu ziehen.“ (11. Parteitag)
 
Unsere historische Kritik an der Lenin’schen-Trotzki’schen Führung
 
Nach 1921 setzt die Phase ein, in der sich die bevorzugt materielle Stellung der Bürokratie dazu auswuchs, daß sie sich immer mehr der Kontrolle der Partei entzog. Sie beherrschte schließlich ebenso die Kontrollkommissionen (auf dem 9. Parteitag zur Kontrolle der Bürokratie eingerichtet). „Das ZK legt die Parteilinie fest, während die zentrale Kontrollkommission (ZKK) darauf achtet, daß niemand von ihr abweicht (…) Autorität erlangt man nicht durch Arbeit, sondern durch Furcht. Und der ZKK und der ‚Arbeiter- und Bauerninspektion‘ (Regierungsorgan, das die Sowjetinstitutionen kontrollieren und rationalisieren sollte, Anmerk. K.P.) ist es jetzt schon gelungen, diese Furcht zu erzeugen.“ (Gussew, Vorsitzender der ZKK!!)
 
Bis 1922/23 waren  Lenin und Trotzki führend für diese Zentralisierungspolitik verantwortlich, die unvermeidlich die Bürokratie wuchern ließ. Im Wirtschaftsaufschwungjahr 1922 lehnte etwa Trotzki die Sowjetdemokratie (zumindest für die Menschewiki) mit dem Hinweis auf die internationale Isolierung Rußlands ab – also für eine ganze Etappe! (Prawda, 10.5.1922, in I.Deutscher, Trotzki, Bd.2) Lenin beharrt zur gleichen Zeit darauf, die Geschlossenheit der Partei mit rücksichtslosen Mitteln zu sichern: „Wenn jemand (…)  Panik verbreitet (…), muß die geringste Verletzung der Disziplin streng, hart, erbarmungslos bestraft werden.“ (11. Parteitag) Die erbarmungslose Bestrafung bedeutete spätestens mit 1922 systematische Ab- und Versetzung, Verschickung von Oppositionellen. Solches war bereits der Anfang, daß die Bürokratie in den entsprechenden ‚Kontrollkommissionen‘ die Zusammensetzung der Parteitage zu bestimmen begann – der unmittelbare Prolog zur Erdrosselung der Partei!
 
Lenin ‚wacht‘ bekanntlich erst nach seinem ersten Schlaganfall im Herbst 1922 so richtig auf: … die Bürokratie sei etwas Ungeheuerliches. Vorher schon, im März hatte er – wie widersprüchlich zum 11. Parteitag! – einzelne Gedanken zu einem konsequenteren Kampf gegen die Bürokratie entwickelt. Der Sowjetstaat sei zum größten Teil ein Überbleibsel des alten… In gewisser Weise neu waren dann in seinen Ausführungen, daß sich die Partei auf die Suche nach den besten Arbeitern machen sollte. Das ist auch der Kern seiner praktischen Vorschläge
 
Die Linksopposition
 
Wir haben bereits weiter oben das Versagen Trotzkis im Kampf gegen die Bürokratie anskizziert. Er boykottiert Lenins Bitte an ihn vom Krankenbett aus, auf dem 12. Parteitag gegen Stalin vorzugehen, ja er erklärt sich noch dazu mit der neuen Führung um Stalin (dem Kandidaten der Bürokratie), Kamenjew und Sinowjew unerschütterlich solidarisch und fordert von den Parteimitgliedern strikteste Zurückhaltung (I.Deutscher, a.a.O.) Trotzki unterstützt die Unterdrückung der oppositionellen Arbeitergruppen (‚Arbeiterwahrheit‘ und ‚Arbeitergruppe‘).
 
Wir sehen für diese Phase bis 1923 allem voran das Versagen der Lenin’schen-Trotzki’schen Führung, nicht konsequent gegen die Bürokratisierung (im Rahmen der isolierten Sowjetunion) vorgegangen zu sein. Die Demokratischen Zentralisten machten gute Vorschläge. Ossinski fordert z.B. auf dem 8. Parteitag, in das ZK „in großem Umfang Arbeiter aufzunehmen“, das ZK zu proletarisieren – ein Vorschlag, den Lenin 3 Jahre später aufgriff. Hätte 1919 Ossinskis Vorschlag die bolschewistische Macht erschüttert?
 
Die linke Opposition – und hier allen voran die ‚Arbeiteropposition‘ – saß allerdings einem Syndikalismus auf, der weit abgehoben von der russischen (Bürgerkriegs-) Realität abstrakt auf die Arbeiterklasse setzte. Die Linken waren zudem sehr uneinheitlich (etwa in der nationalen Frage). Kurz, sie waren niemals eine Tendenz, die allein die Führung der Partei übernehmen hätte können.
 
Entscheidend für uns ist es nun, daß mit dem ersten Sieg der Bürokratie 1923 ein neues Kapitel im Kampf um die Sowjetunion aufzuschlagen war. Wiewohl Trotzki nicht unwesentlich zum bürokratischen Triumph beigetragen hatte, beginnt dieses Kapitel mit der Formierung der ‚trotzkistischen‘ Linksopposition. Ihren Beginn setzen wir mit der ‚Erklärung der 46‘, die mit Trotzki (der das Manifest allerdings nicht unterschrieben hatte) das Parteiregime Ende 1923 zur Lösung der anstehenden Aufgaben für gänzlich ungeeignet erklärte. Die Einschränkungen der Parteidemokratie im Bürgerkrieg müßten umgehend zurückgenommen werden (Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Bd.1, edition prinkipo).
 
1923/24 hatte die Bürokratie jedoch die Partei fest in den Griff genommen – der sowjetische Thermidor hatte begonnen. Die bolschewistische Kontinuität gruppierte sich ab da um die Linksopposition. Sie allein war der Garant, daß die nächste Welle der internationalen Revolution, von der schon Lenin in ‚Lieber weniger aber besser‘ über den anti-imperialistischen Kampf im Osten gesprochen hatte, für die Wiedergesundung der Sowjetunion genützt werden konnte.
 
Indes, die revolutionären Entwicklungen in Deutschland waren spätestens 1923 endgültiger vorbei; die chinesische Revolution war erst im Entstehen und wurde ab Mitte der 20er Jahre bereits in den Sog des bolschewistisch-bürokratischen Konservativismus gezogen. Ein widersprüchliches Knäuel von erstarktem internationalen Imperialismus (und Sozialdemokratismus), wachsendem bürokratischen Schwergewicht in der Sowjetunion und gewichtige Fehler der Revolutionäre/innen und Linksopposition ermöglichten spätestens ab 1927/28 den endgültigeren Triumph (und die blinde Repression) durch Stalins Diktatur.
 
Wien, 7.3.1993
K. Pawelka.