Epilog von Alexander Rabinowitch „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“

Epilog

Am 25. Oktober gegen 9:00 Uhr, nur wenige Stunden vor der Eroberung des Winterpalais durch das Militärische Revolutions­komitee, erreichte Kerenski das Hauptquartier der Nordfront in Pskow 280 km südwestlich von Petrograd. Zuvor hatte der Psko­wer Sowjet per. Resolution die Entsendung von Fronttruppen zur Verteidigung der Provisorischen Regierung nach Petrograd untersagt. Wie Krylenko den jubelnden Deputierten des Zweiten Sowjetkongresses bald mitteilen sollte, hatte ein vom Pskower Sowjet gebildetes Militärisches Revolutionskomitee die Kontrolle über die örtlichen Kommunikations- und Verkehrseinrichtun­gen übernommen und damit begonnen, die Aktionen des mili­tärischen Oberkommandos zu überwachen. General Tscheremi­sow, Kommandant der Nordfront, erkannte die Zwecklosigkeit jeglichen Widerstands und war sich über die hoffnungslose Lage der Provisorischen Regierung im Klaren. Er widerrief frühere Anordnungen über die Entsendung von Fronttruppen nach Pet­rograd. Außerdem befahl er, diejenigen Verbände, die bereits in die Hauptstadt unterwegs waren, aufzuhalten. Als Kerenski eintraf, warnte Tscheremisow, er könne die persönliche Sicherheit des Premierministers nicht garantieren, und drängte ihn, Pskow umgehend wieder.zu verlassen.

Doch am Abend war Kerenski noch immer in Pskow und traf sich mit General Petr Krasnow, der den Posten des verstorbenen Generals Krymow als Kommandant der dritten Heeresabteilung übernommen hatte. Dabei handelte es sich um eine Militärstreit-kraft von beträchtlicher Größe, die Ende August in Richtung Pet­rograd verlegt und von General Kornilow für Besetzungszwecke vorgesehen worden war. Krasnow, ein Erzreaktionär, missbilligte Cscheremisows Entscheidung, die Verlegung von Frontsoldaten lach Petrograd zu stoppen. Er wollte es auf den Versuch ankom­nen lassen, seine eigenen Kosaken zur Befriedung der Hauptstadt :u mobilisieren. Zu diesem Zeitpunkt war das Personal der dritten Heeresabteilung allerdings über Hunderte Kilometer verstreut ind im Großen und Ganzen ebenso wenig wie die meisten ande­en Truppen an der Nordfront geneigt, die Provisorische Regie­rung zu unterstützen. Aus diesem Grund fiel das Aufgebot, das Krasnow in Kerenskis Auftrag mobilisieren konnte, recht spärlich aus. Es bestand aus zwölfeinhalb 70 Mann starken Kosakenschwa­dronen, einiger leichter Artillerie, einem gepanzerten Zug und einem gepanzerten Wagen. Am Morgen des 27. Oktober besetzten diese Einheiten Gatschina, wo Kerenski sein Hauptquartier ein-richtete. Dann pausierten die Truppen kurz in der vergeblichen Hoffnung auf Verstärkung und begannen einen baldigen Angriff auf die Hauptstadt vorzubereiten.2

In Petrograd hatte unterdessen der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongress Lenins Dekrete über Frieden und Land angenommen. Das Friedensdekret versprach ein Ende der Geheimdiplomatie und schlug die sofortige Aufnahme von Verhandlungen wer einen demokratischen Frieden »ohne Annexionen und ohne Entschädigungen« vor. Das Landdekret, im Wesentlichen dem populären Agrarprogramm der Linken Sozialrevolutionäre entliehen, schaffte das Privateigentum an Grund und Boden ab und iochuf die Voraussetzungen für den Übergang allen in Privat- und enbesitz befindlichen Bodens an Landkomitees und an Sowjet von Bauerndeputierten zur bedarfsgerechten Verteilung an die Bauernschaft. Bevor sie am 27. Oktober auseinandergingen, wählten die Deputierten auch ein neues zentrales Exekutivkomitee. Sein Vorsitzender sollte Kamenew werden; es sollte aus Bolschewiki, 29 Linken Sozialrevolutionären, 6 Menschewikiationalisten und 4 Vertretern kleinerer linker Gruppen bestehen. Der Kongress bestätigte auch die Ernennung einer provisorisch- revolutionären Regierung. Mitglieder dieser neuen zunächst
ausschließlich bolschewistischen Regierung3 mit der offziellen Bezeichnung »Rat der Volkskommissare« waren Lenin (Vorsitzender), Trotzki (auswärtige Angelegenheiten), Rykow (innere Angelegenheiten), Miljutin (Landwirtschaft), Schljap­nikow (Arbeit), Nogin (Industrie und Handel), Lunatscharski (Bildung), Antonow-Owsejenko, Krylenko und Dybenko (Armee und Marine), Lomow (Justiz), Iwan Skorzow (Finanzen), Iwan Teodorowitsch (Lebensmittelversorgung), Nikolai Awilow (Post und Telegrafenwesen) und Stalin (Nationalitäten). Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Kommissare war die Ankündigung, die Wahlen zur konstituierenden Versammlung wie geplant am 12. November abzuhalten.4

Heftiger Widerstand gegen die bolschewistische Regierung formierte sich anfänglich im Umfeld des sogenannten Gesamtrus­sischen Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolu­tion, das am 26. Oktober vor allem von Menschewiki und Sozial-revolutionären in der Petrograder Stadtduma organisiert wurde. In diesem Komitee saßen Vertreter der Stadtduma, des Präsidi­ums des Vorparlaments, des alten zentralen Exekutivkomitees, des gesamtrussischen Exekutivkomitees der Bauernsowjets, der Gewerkschaften der Bahn-, Post- und Telegrafenarbeiter, des Zen­troflot und der Zentralkomitees von Menschewiki und Sozialrevo­lutionären. In den ersten Tagen nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki rief das Komitee Regierungsangestellte und ein-fache Bürger dazu auf, den Rat der Volkskommissare nicht anzu­erkennen und seine Anweisungen nicht zu befolgen. Das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution beanspruchte das Recht, eine neue provisorische Regierung zu bilden, für sich selbst.

Die Führer des Rettungskomitees entwarfen auch Pläne zur Koordination eines Aufstands in der Hauptstadt, der mit dem stündlich erwarteten Eintreffen von Krasnows Kosaken beginnen sollte. Aber ihre Absichten kamen dem Militärischen Revoluti­onskomitee in der Nacht des 28. Oktobers zu Ohren, noch bevor Krasnow zum Angriff bereit war. Folglich war das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution gezwungen, die Bol­schewiki am nächsten Morgen offen anzugreifen. Kadetten aus Militärschulen in der Hauptstadt besetzten das Petrograder Tele­grafenamt, das Hotel Astoria und die Staatsbank. Dann bereiteten sie sich darauf vor, die Bolschewiki aus dem Smolny-Institut zu vertreiben. Vom Petrograder Militärpersonal schlossen sich aber nur Kadetten dem Aufstand an. Sie waren den schnell aufgestell­ten Truppen des Militärischen Revolutionskomitees in keiner Hinsicht gewachsen. Die Stellungen, die sie am 29. Oktober in der Frühe eingenommen hatten, wurden mühelos zurückerobert, die am Aufstand beteiligten Militärschulen rasch isoliert, abge­riegelt und in einem Fall mit Artilleriefeuer beschossen. Noch vor Anbruch der Nacht hatten alle Militärschulen kapituliert. Der voreilige Aufstand war erfolgreich niedergeschlagen.

Auch das von gemäßigten Sozialisten dominierte Gesamtrus­sische Exekutivkomitee der Gewerkschaft der Eisenbahnarbeiter (Wikschel) lehnte die in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober gebildete, ausschließlich bolschewistische Regierung entschieden ab. Das Wikschel bemühte sich jetzt, als Vermittler zwischen dem Militärischen Revolutionskomitee und dem Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution aufzutreten, um die Bildung einer rein sozialistischen Regierung zu betreiben. Diese sollte Vertreter aller sozialistischen Gruppen, von den Volkssozialisten auf der Rechten bis zu den Bolschewiki auf der extremen Linken, einschließen. Zu diesem Zweck berief das Wikschel am 29. Okto­ber eine Konferenz sozialistischer Parteien ein und drohte mit einer nationalen Arbeitsniederlegung ab Mitternacht für den Fall, dass die Bemühungen um einen Waffenstillstand zwischen den kriegführenden Seiten und um die Aufnahme von Verhandlun­gen über eine Regierungsbildung auf breiterer Grundlage erfolg-los blieben.6 Die Drohung mit einem Eisenbahnerstreik verhieß nichts Gutes. Durch die Unterbrechung der Verbindung zwischen Petrograd und dem Rest des Landes konnte das Wikschel die neue Regierung in eine unhaltbare Lage bringen. Auch aus diesem Grund erklärten die Bolschewiki sich bereit, an der vom Wikschel unterstützten Konferenz teilzunehmen, die planmäßig am Abend des 29. Oktober begann.

Zwar gelang es dem Wikschel, politische Gespräche auf höchs­ter Ebene zu erwirken, doch die Herbeiführung eines Waffenstill­stands misslang. Das entscheidende Gefecht zwischen Krasnows etwa 1000 Mann starker Kosakeneinheit und einer etwa zehnmal so großen zusammengewürfelten Armee, die sich aus Arbeiter­einheiten, Soldaten der Petrograder Garnison und Matrosen der Baltischen Flotte zusammensetzte, fand am 30. Oktober auf den

Pulkowo-Höhen nördlich von Zarskoje Selo statt, rund 20 km außerhalb von Petrograd. Dieser Kampf, treffend als »das Vaimy der russischen Revolution«8 bezeichnet, war chaotisch, desorga­nisiert und blutig. Beide Seiten verzeichneten hohe Verluste. Am späten Nachmittag kam die Offensive von Krasnows demoralisier­ten Kräften zum Stillstand. Die Kosaken, denen die Munition aus-ging, liefen Gefahr, an den Flanken umgangen und vom Nachschub abgeschnitten zu werden. Zum Rückzug nach Gatschina gezwun­gen, erklärten sie sich zwei Tage später unter der Bedingung, dass man ihnen Straffreiheit und sicheres Geleit gewähre, bereit, ihren Widerstand aufzugeben und Kerenski auszuliefern, damit er ver­haftet und vor Gericht gestellt werden konnte. Im Voraus über die Kapitulation der Kosaken informiert, gelang es Kerenski gerade noch, sich mit Matrosenuniform und Automobilbrille verkleidet einer Festnahme zu entziehen und abzutauchen.9

Unter dem andauernden Druck des Wikschel – dessen Appelle, einen Kompromiss zu schließen und den Bürgerkrieg zu beenden, von den Linken Sozialrevolutionären und den Menschewiki-Inter­nationalisten wie auch von Massenorganisationen der Hauptstadt wie dem Petrograder Gewerkschaftssowjet, dem Zentralsowjet von Fabrikkomitees und diversen Bezirkssowjets unterstützt wur­den – zogen sich die Diskussionen über die Bildung einer von einer breiten Mehrheit getragenen sozialistischen Regierung tagelang hin. Zu Beginn dieser Gespräche waren die Vertreter der Zentral­komitees von Menschewiki und Sozialrevolutionären eher darauf bedacht, die Bolschewiki niederzuringen, als sich mit ihnen zu verständigen.10 Nachdem sich ihre anfängliche Zuversicht, dass die Bolschewiki gestürzt werden könnten, als unbegründet erwie­sen hatte, freundeten sich die gemäßigten sozialistischen Führer allmählich mit der Vorstellung an, in ein Koalitionskabinett mit den Bolschewiki einzutreten. Jegliche Beteiligung an einer Regie­rung, in der Lenin oder Trotzki vertreten waren, lehnten sie jedoch weiterhin vehement ab. Darüber hinaus bestanden sie auf einer Reihe von Zusagen, die gewährleisten sollten, dass eine zukünftige Regierung nicht von den Bolschewiki dominiert würde.“

Zwischen dem 29. und dem 31. Oktober, als es den Anschein hatte, dass Krasnows Truppen die Hauptstadt einnehmen könn­ten und die neue Regierung auf erhebliche Schwierigkeiten stieß, ihre Autorität auch in Moskau durchzusetzen, schien die bolsche­wistische Führung in diesen Grundfragen zu Zugeständnissen bereit.12 Sowohl Lenin als auch Trotzki waren in dieser Phase mit dringenden logistischen und militärischen Angelegenheiten beschäftigt. Sie nahmen weder an Parteitreffen teil, auf denen die bolschewistische Haltung zur Regierungsfrage formuliert wurde, noch an den Sitzungen des Zentralkomitees und der Wikschel-Konferenz, auf denen Charakter und Programm einer neuen Regierung besprochen wurden. In ihrer Abwesenheit wogen die Ansichten Kamenews, Sinowjews, Rykows, Miljutins und ande­rer gemäßigter Bolschewisten besonders schwer. Kamenew und seine Mitstreiter waren seit Langem der festen Überzeugung, dass allein die Bildung einer breiten sozialistischen Regierung Aus-sichten eröffnete, die Revolution zu verteidigen, ihre Errungen­schaften zu erhalten, eine baldige Einberufung der konstituieren-den Versammlung zu gewährleisten und einen Friedensschluss zu erreichen. Folglich ging es ihnen in erster Linie darum, dass das neue Kabinett keine Vertreter der besitzenden Klassen enthielt und sich darauf verpflichtete, das allgemeine politische und sozi­ale Programm umzusetzen, das vom Zweiten Sowjetkongress bestätigt worden war.

Es liegt ein Hauch von Ironie darin, dass Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu der Zeit, als die bolschewistische Partei­führung einem Kompromiss zuneigte, wenig Interesse zeigten, sich mit der bolschewistischen Herrschaft zu arrangieren. Nach Krasnows Niederlage, als die gemäßigten Sozialisten dann einer Übereinkunft mit den Bolschewiki aufgeschlossener gegenüber-standen, wies das bolschewistische Zentralkomitee die Position seiner gemäßigteren Mitglieder zurück und schwenkte in den Wikschel-Verhandlungen auf einen erheblich härteren Kurs ein. Dies lag zum einen daran, dass dem neuen Regime in Petro­grad keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, und zum anderen daran, dass Lenin und Trotzki nun in die inneren Zirkel der Partei zurückgekehrt waren und sich mit ihrer Haltung durchsetzten. Die Vertreter der Partei bei den Wikschel-Gesprächen wurden angewiesen, die Undurchführbarkeit einer Koalition mit gemä­ßigten sozialistischen Gruppen aufzuzeigen und die Gespräche rasch zu beenden.13

In öffentlichen Einrichtungen wie dem Zentralen Exekutivko­mitee drängten gemäßigte Bolschewiki auch weiterhin auf die Bildung einer Regierung, in der alle sozialistischen Parteien ver­treten sein sollten — selbst, nachdem die gemäßigte Position im Zentralkomitee überstimmt worden war. Kamenew und Sinowjew holten am 3. November sogar die Unterstützung des Zentralen Exekutivkomitees für weitere Bemühungen um die Bildung einer solchen Regierung ein.14 Erst eineinhalb Wochen zuvor hatte Lenin den Parteiausschluss von Kamenew und Sinowjew gefor­dert, weil sie sich dem Aufstand widersetzt hatten. Die Bereit­schaft der Gemäßigten, die Arbeit der Partei zu sabotieren und die Revolution abermals zu gefährden, war für ihn unerträglich. Am 3. November setzte Lenin ein Ultimatum auf, das anschlie­ßend von neun Mitgliedern des Zentralkomitees unterzeichnet wurde: Entweder die »Opposition« halte sich an die Parteidiszip­lin und unterstütze die von der Mehrheit vereinbarte Politik oder man werde Schritte unternehmen, um ihre Mitglieder aus der Partei auszuschließen.15

Lenins Ultimatum wurde am 4. November formell vorgelegt. Kamenew, Sinowjew, Rykow, Nogin und Miljutin traten darauf-hin unter Protest aus dem Zentralkomitee aus. Rykow, Nogin und Miljutin legten zusammen mit Teodorowitsch auch ihre Regierungsämter nieder. Ein paar Wochen später, nachdem die Wikschel-Gespräche gescheitert waren, erklärten sich die Linken Sozialrevolutionäre bereit, dem Rat der Volkskommissare beizu­treten. Mehrere Linke Sozialrevolutionäre übernahmen Regie­rungsposten.16 Nicht allzu lange nach der Bildung der Koaliti­onsregierung aus Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären gaben Kamenew und seine ‚Mitstreiter ihren offenen Widerstand gegen die bolschewistische Führung auf. Nach und nach kehrten sie auf alle ihre verantwortlichen Stellungen innerhalb der Partei und der Regierung zurück. Die Teilnahme der Linken Sozialrevo­lutionäre am Rat der Volkskommissare erwies sich als kurzlebig. Mitte März 1918 traten sie aus Protest gegen die Unterzeichnung des erdrückenden Vertrags von Brest-Litowsk, der Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg beendete, aus der Regierung aus.

Vor der Sowjetregierung lag ein zweieinhalbjähriger Bürgerkrieg gegen anti-bolschewistische Armeen aus dem In- und Ausland. Diesem erbitterten Überlebenskampf von bis dahin ungeannter Härte folgte eine ökonomische und soziale Krise, deren Ausmaß alles, was Russland 1917 durchgemacht hatte, bei Wei­tem übertraf. Während dieser qualvollen Jahre ging der demo­kratische Charakter der bolschewistischen Partei verloren, und die Unabhängigkeit der Sowjets wurde zerstört. Erneut wurde dem ganzen Land eine repressive, zentralisierte Bürokratie auf-gezwungen. Das politische und wirtschaftliche Leben Russlands wurde dem Diktat der bolschewistischen Führung unterworfen.“ Doch diese Ereignisse gehören zu einem anderen Kapitel der modernen russischen Geschichte, das nicht weniger Unheil birgt als das vorangegangene.

Die zentrale Frage, warum die Bolschewiki 1917 den Kampf um die Macht in Petrograd gewannen, ist nicht leicht zu beant­worten. Rückblickend wird klar, dass die grundlegende Schwä­che der Kadetten und der gemäßigten Sozialisten während der revolutionären Periode bei gleichzeitiger Entfaltung und Stärke der radikalen Linken zu jener Zeit auf die Besonderheiten von Russlands politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung im 19. Jahrhundert und davor zurückgeführt werden kann. Auch der Weltkrieg hatte erhebliche Auswirkungen auf den Ausgang der Revolution von 1917 in Petrograd. Hätte sich die Provisorische Regierung nicht das Ziel gesetzt, den Krieg bis zum Sieg weiterzuführen — eine Politik, die 1917 keine breite Unterstützung fand —, dann hätte sie die unzähligen Probleme, die der Zusammenbruch der alten Ordnung unweigerlich mit sich brachte, sicherlich besser bewältigen können. Insbesondere wäre sie in der Lage gewesen, auf die Forderungen des Volkes nach sofortigen grundlegenden Reformen einzugehen.

Unter den gegebenen Umständen jedoch bestand eine erheb­liche Quelle der wachsenden Stärke und Autorität der Bolsche­wiki 1917 in der geradezu magnetischen Anziehungskraft der Plattform der Partei, die sich in den Losungen »Frieden, Land und Brot« und »Alle Macht den Sowjets« ausdrückte. Die Bol­schewiki warben außerordentlich energisch und einfallsreich um die Unterstützung der Petrograder Fabrikarbeiter und Soldaten und der Kronstädter Matrosen. Für diese Gruppen bedeutete die Losung »Alle Macht den Sowjets« die Bildung einer demokratischen, ausschließlich sozialistischen Regierung, die alle Parteien und Gruppen innerhalb des Sowjets repräsentierte und sich zu einem Programm des sofortigen Friedens, sinnvoller innenpoliti­scher Reformen und der raschen Einberufung einer konstituieren-den Versammlung bekannte. Im späten Frühjahr und im Sommer 1917 trug eine Reihe von Faktoren dazu bei, die Unterstützung für die erklärten Ziele der Bolschewiki, insbesondere für den Über-gang der Macht auf die Sowjets, zu verstärken. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich ständig. Die Garnisonssoldaten waren direkt von der Verschickung an die Front bedroht. Die Hoffnung des Volkes auf einen baldigen Frieden und auf Reformen unter der Provisorischen Regierung schwand. Zugleich verloren alle anderen größeren politischen Gruppen an Glaubwürdigkeit, weil sie der Regierung nahestanden und wie diese Geduld und Opfer im Interesse der Kriegsanstrengungen forderten. Der Wunsch, die Koalitionsregierung mit den Kadetten zu beenden, war nach der Kornilow-Affäre in den unteren Schichten der Petrograder Bevöl­kerung allgegenwärtig.

Dass die Bolschewiki innerhalb von acht Monaten eine Posi­tion erreichten, die sie zur Machtübernahme befähigte, lag auch daran, dass die Partei sich gezielt um die Unterstützung der Mili­tärkräfte im Hinterland und an der Front bemüht hatte. Nur die Bolschewiki scheinen die entscheidende Bedeutung der Streit­kräfte im Kampf um die Macht erkannt zu haben. Grundsätzlicher noch kann der phänomenale Erfolg der Bolschewiki in erhebli­chem Maß dem Charakter der Partei von 1917 zugeschrieben werden. Damit meine ich nicht Lenins mutige und entschlossene Führerschaft, deren immense historische Bedeutung unbestreit­bar ist, und auch nicht die sprichwörtliche, wenngleich oftmals stark übertrieben dargestellte Einheit und Disziplin der Organi­sation. Eher würde ich die relativ demokratische, tolerante und dezentralisierte innere Struktur und Arbeitsweise der Partei wie auch ihre grundsätzliche Offenheit und ihren Massencharakter hervorheben — was dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht.

Wie wir gesehen haben, gab es innerhalb der Petrograder bol­schewistischen Organisation auf allen Ebenen durchgängig freie und lebhafte Diskussionen über Grundfragen von Theorie und

Taktik. Führer, die nicht mit der Mehrheit übereinstimmten, durf­ten offen für ihre Ansichten eintreten, und nicht selten ging Lenin aus diesen Auseinandersetzungen als Verlierer hervor. Um die Bedeutung dieser Zulassung von Meinungsverschiedenheiten und des fortgesetzten Gebens und Nehmens einzuschätzen, muss man sich nur in Erinnerung rufen, dass das ganze Jahr 1917 hindurch viele der wichtigsten Resolutionen und öffentlichen Erklärungen der Bolschewiki genauso stark von der Haltung ihres rechten Flügels wie von derjenigen Lenins beeinflusst wurden. Darüber hinaus zählten gemäßigte Bolschewiki wie Kamenew, Sinowjew, Lunatscharski und Rjasanow zu ihren wortgewandtesten und angesehensten Sprechern in wichtigen öffentlichen Einrichtungen wie den Sowjets und den Gewerkschaften.

Untergeordneten Parteikörperschaften wie dem Petersburger Komitee und der Militärorganisation wurden 1917 beträchtliche Unabhängigkeit und Eigeninitiative zugestanden. Ihre Ansichten und Kritikpunkte wurden bei der Festlegung der Politik auf höchs­ter Ebene berücksichtigt. Vor allem aber waren diese unteren Gre­mien in der Lage, sich unter schnell wechselnden Bedingungen in ihrer Taktik und ihren Appellen an der eigenen Anhängerschaft zu orientieren. Große Mengen neuer Mitglieder wurden für die Partei rekrutiert und spielten auch bei der Gestaltung der Füh­rung der Bolschewiki eine entscheidende Rolle. Zu diesen Neu­zugängen zählten viele führende Figuren der Oktoberrevolution wie Trotzki, Antonow-Owsejenko, Lunatscharski und Tschud­nowski. Zu den Neuzugängen gehörten aber auch Zehntausende von Arbeitern und Soldaten aus den Reihen der ungeduldigsten und unzufriedensten Elemente in den Fabriken und Garnisonen, die nur wenig, wenn überhaupt etwas, vom Marxismus verstan­den und sich nicht um Parteidisziplin scherten. Dies verursachte im Juli extreme Probleme, als die Führer der Militärorganisation und des Petersburger Komitees aus Verpflichtung gegenüber ihrer eigenen militanten Anhängerschaft entgegen den Wünschen des Zentralkomitees einen Aufstand vorantrieben. Aber während der Phase der Reaktion, die auf den Juli-Aufstand folgte, im Verlauf des Kampfes gegen Kornilow und erneut während der Oktober­revolution, sollten die weitreichenden, sorgfältig gepflegten Ver­bindungen in den Fabriken, den örtlichen Arbeiterorganisationen und den Einheiten der Petrograder Garnison sowie der Baltischen Flotte zu einer entscheidenden Quelle der Stabilität und Stärke der Partei werden.

Welche Rolle die dynamische Beziehung, die 1917 innerhalb der obersten bolschewistischen Hierarchie, wie auch zwischen ihr, den anscheinend untergeordneten Elementen der Partei und den Massen bestand, für den Erfolg der Bolschewiki spielte, zeigte sich sofort nach der Juli-Erhebung. Zu jener Zeit glaubte Lenin, die Provisorische Regierung werde de facto von konterrevoluti­onären Elementen kontrolliert. Er überschätzte die Fähigkeit der Regierung, der Linken zu schaden, und war darüber hinaus der Meinung, dass die bestehenden Sowjets unter dem Einfluss der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre machtlos geworden seien.

Deshalb verlangte er von der Partei, die Orientierung auf einen friedlichen Übergang der Macht auf die Sowjets aufzugeben und einen bewaffneten Aufstand zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorzubereiten. Andere Führer, die zumeist enge Verbindungen zu Arbeitern und Soldaten unterhielten und auch im Zentralen Exe­kutivkomitee und im Petersburger Sowjet aktiv waren, weigerten sich, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre als potenzielle Verbündete und die Sowjets als legitime revolutionäre Einrich­tungen abzuschreiben. Während die Losung »Alle Macht den Sowjets« Ende Juli vom Sechsten Parteitag offiziell zurückgezo­gen wurde, vollzog die örtliche Ebene diesen Wechsel nicht mit. Darüber hinaus hatte der Parteitag die Bemühungen, die Sowjets zu gewinnen, in ihrer Bedeutung nicht herabgemindert, und so bildeten sie den ganzen Monat August hindurch weiterhin einen Schwerpunkt der Parteiaktivitäten.

Die Folgen der Reaktion erwiesen sich in den Nachjulita­gen nicht annähernd so gravierend, wie anfangs befürchtet. Im Gegenteil. Die repressiven Maßnahmen der Regierung wie auch die willkürliche Verfolgung linker Führer und die zunehmende Gefahr der Konterrevolution förderten die Vorbehalte der Mas­sen gegen die Kerenski-Regierung und veranlassten sie, sich zur Verteidigung der Revolution noch enger um die Sowjets zu scha­ren. Die Bolschewiki, die zusammen mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären vorwiegend durch von den Sowjets ins Leben gerufene revolutionäre Komitees arbeiteten, spielten bei der schnellen Niederschlagung Kornilows eine führende Rolle. In der Hauptstadt ging der Petrograder Sowjet, seiner Zusammen­setzung und seiner Haltung nach eindeutig besonders radikal, mit deutlich gewachsener Macht und Autorität aus der Kornilow-Erfahrung hervor. Als Reaktion darauf kehrten die Bolschewiki Anfang September zu ihrer Losung »Alle Macht den Sowjets« aus den Tagen vor dem Juli-Aufstand zurück.

Den wohl klarsten Beweis für die Bedeutung und den Wert der relativ freien und flexiblen Struktur der Partei und ihrer takti­schen Empfänglichkeit für die Stimmung der Massen lieferte die zweite Septemberhälfte: Die Parteiführer in Petrograd stellten sich taub gegenüber den zeitlich ungelegenen Appellen Lenins, der von seinem Versteck in Finnland aus den sofortigen Aufstand verlangte. Zwar machte das bolschewistische Zentralkomitee die Organisation eines bewaffneten Aufstands in Lenins Anwesenheit am 10. Oktober zum Tagesbefehl, doch wurde in den folgenden Tagen immer deutlicher, dass eine unabhängig von den Sowjets und vor dem Zweiten Sowjetkongress durchgeführte Erhebung von den Petrograder Massen nicht unterstützt werden würde, dass sich alle anderen größeren Parteien, die Bauern in den Pro­vinzen und die Soldaten an der Front einer ausschließlich von den Bolschewiki betriebenen Machtergreifung widersetzen würden, dass möglicherweise auch demokratische Masseneinrichtungen wie die Sowjets und die Gewerkschaften sich dagegen ausspre­chen würden und dass die Partei organisatorisch ohnehin nicht auf einen Angriff auf die Regierung vorbereitet war. Unter die-sen Umständen entwarfen taktisch umsichtige Parteiführer unter Trotzkis Leitung die Strategie, zur Machtergreifung die Organe des Petrograder Sowjets zu nutzen, den Angriff auf die Regierung als defensive Operation im Auftrag des Sowjets zu tarnen und, wo immer möglich, den formellen Sturz der Regierung mit der Arbeit des Zweiten Sowjetkongresses zu verknüpfen.

Vom 21. bis 23. Oktober gewann das Militärische Revolutions­komitee die Kontrolle über die meisten in Petrograd stationierten Einheiten. Dabei machte es sich die Ankündigung der Regierung zunutze, den Großteil der Garnison an die Front zu verlegen, und tarnte jeden Schritt als Verteidigungsmaßnahme gegen die Konterrevolution. Auf diese Weise entwaffnete es die Provisorische Regierung praktisch ohne einen einzigen Schuss. Kerenski leitete daraufhin am frühen Morgen des 24. Oktober Schritte zur Niederschlagung der Linken ein. Erst zu diesem Zeitpunkt, nur Stunden vor der planmäßigen Eröffnung des Sowjetkongresses und teilweise unter dem beständigen Drängen Lenins, nahm der Aufstand, den Lenin seit mehr als einem Monat forderte, tatsäch­lich seinen Lauf.

Der Verzögerung des Aufstands bis zum 24./25. Oktober wird bisweilen deshalb entscheidende historische Bedeutung beige-messen, weil sie den Großteil der Menschewiki und Sozialrevolu­tionäre zum Auszug aus dem Zweiten Sowjetkongress gezwungen habe. Auf diese Weise sei die Bildung einer sozialistischen Koa­litionsregierung, in der die gemäßigten Sozialisten ein gewich­tiges Wort hätten mitreden können, verhindert und der Entste­hung einer ausschließlich von den Bolschewiki kontrollierten und dominierten Sowjetregierung der Weg bereitet worden. In der Tat weist alles darauf hin, dass dies der Fall war. Ein wichtigerer Grund aber besteht darin, dass ein bewaffneter Aufstand, wie er Lenin vorschwebte, nur als Reaktion auf einen direkten Angriff der Regierung auf die Linke denkbar war. Denn die Massen in Petrograd, und das kann man nicht oft genug betonen, haben die Bolschewiki beim Sturz der Provisorischen Regierung zwar tatkräftig unterstützt, aber nicht aus Sympathie für eine bolsche­wistische Alleinherrschaft, sondern weil sie glaubten, dass die Revolution und der Kongress unmittelbar bedroht waren. Nur die Bildung einer breiten, repräsentativen, ausschließlich sozialisti­schen Regierung durch den Sowjetkongress, wofür die Bolsche­wiki ihrer Meinung nachstanden, bot in ihren Augen Anlass zur Hoffnung, dass es keine Rückkehr zu den verhassten Gepflogen­heiten des alten Regimes geben würde, dass weiteres Sterben an der Front vermieden, ein besseres Leben verwirklicht und Russ­lands Beteiligung am Krieg schnell beendet werden könne.

Fußnoten

1. A. L. Frajman: Forpost socialistueskoj revoljucii, Leningrad 1969, S. 19; I. S. Lutovinov: Likvidacija mjateza Kerenskogo-Krasnova, Moskau und Lenin-grad 1965, S. 7.

2. Oktjabr’skoe vooruzennoe vosstanie, Bd. 2, S. 376.

3. Die Linken SR wurden eingeladen, der Regierung beizutreten. Sie lehnten jedoch ab, da sie glaubten, außerhalb der Regierung die Bildung einer brei­ten sozialistischen Regierung befördern zu können, indem sie als Vermittler zwischen den Bolschewiki und deren Gegnern fungieren würden.

4. Lzvestija, 28. Oktober, S. 2. Die Wahlen fanden wie versprochen vom 12. bis zum 14. November statt. Die
Bolschewiki gewannen zwar in Petrograd, lagen jedoch auf Landesebene hinter den linken SR und konnten nicht ein-mal zusammen mit deren Stimmen eine Mehrheit bilden. Die Konstituie­rende Versammlung wurde in Petrograd am 5. Januar 1918 eröffnet, doch da die Abgeordneten es ablehnten, die durch die Oktoberrevolution herbei-geführten Veränderungen zu akzeptieren, wurde sie nach nur einer Sitzung zwangsweise aufgelöst.

5. Novaja zizn‘, 30. Oktober, S. 3; Melgunov: The Bolshevik Seizure of Power, S. 141-142.

6. I. N. Ljubimov: Revoljucija 1917 goda: Chronika sobytij, Moskau 1930, Bd. 6, S. 436-437; Oktjabr’skoe vooruzennoe vosstanie, Bd. 2, S. 403.

7. Ljubimov: Revoljucija 1917 goda, Bd. 6, S. 436-437; Oktjabr’skoe vooruzennoe vosstanie, Bd. 2, S. 403-405.

8. Daniels: Red October, S. 206.

9. Izvestija, 3. November, S. 5; für Kerenskis Version dieses Ereignisses siehe: Russia and History’s Turning Point, S. 443-446.

10. Oktabr’skoe vooruzennoe vosstanie, Bd. 2, S. 406.

11. Die gemäßigten Sozialisten stellten unter anderem die Forderungen auf, Ämter in Schlüsselministerien mit Nicht-Bolschewiki zu besetzen und kei­ner einzelnen Partei eine Mehrheit in der Regierung zu gewähren. Minister sollten in die Regierung als Individuen und nicht als Vertreter ihrer Parteien eintreten, und die Regierung sollte nicht dem Zentralen Exekutivkomitee, sondern einer breiteren repräsentativen Versammlung unterstellt sein, die nach dem Vorbild der Demokratischen Staatskonferenz aufgebaut sein sollte und in der die Wahrscheinlichkeit einer bolschewistischen Mehrheit mini-mal sein würde.

12. Novaja zizn‘, 3. November, S. 2.

13. Protokoly Central’nogo komiteta, S. 130.

14. Durch die verschärfte Kontrolle über die Presse durch die Regierung zu die­sem Zeitpunkt fühlten sich die gemäßigten Sozialisten in ihrem Kampf für

eine breitere repräsentative Regierung betätigt. Ihrer Meinung nach waren derartige Freiheitsbeschränkungen die unausweichliche Folge der Allein­herrschaft der Bolschewiki.

15. Protokoly Central’nogo komiteta, S. 133-134.

16. Gusev: Krach partii levych eserov, S. 107-108.

17. Für eine wertvolle Analyse der Auswirkungen, die der Bürgerkrieg auf die sowjetische Politik und Gesellschaft hatte, siehe Cohen: Bukharin and die Bolshevik Revolution, S. 66-106.

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Mehrung-Verlag, 1. Auflage August 2012