Isaac Deutscher: Leo Trotzkis Kritik an Victor Serge zu Kronstadt und revolutionärer Moral

Montag, 27. August 2001

Von: carlaurel@hotmail.com
 

Leo Trotzki zur Kritik Victor Serges & Genossen zu Kronstadt und revolutionärer Moral

(aus “Trotzki – der bewaffnete Prophet, Bd. 3, Isaak Deutscher, W.Kohlhammer-Verlag, 1972)

Sehr viele radikale Intellektuelle und ArbeiteraktivistInnen begeisterten sich natürlich für die Russische Revolution und etliche unter ihnen schlossen sich dann in den 20er Jahren im Zuge der bürokratischen Degenerierung der Sowjetunion unter Stalin der Linksopposition mit Leo Trotzki an. Doch gegen Ende der 30er Jahre hatte die Stalin’sche Reaktion mit Millionen Toten in der SU, der Ermordung hunderter RevolutionärInnen in den Schauprozessen und den tiefen Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse durch den Faschismus (mitverschuldet durch Stalins Kommunistische Parteien) ungeahnte Ausmaße angenommen. In der radikalen Intelligenz kamen Zweifel hoch an den bisherigen Sichtweisen über Sowjetunion, Bolschewismus und Revolution, während auch die trotzkistischen Gruppen im Wesentlichen kleine isolierte Grüppchen blieben. Im Winter 1937-38 beginnen Eastman, Souvarine, Ciliga, Serge u.a. eine Debatte über Trotzkis Rolle im Kronstädter Aufstand bis dorthin, dass mit dessen Niederschlagung 1921 durch die Bolschewiki der Stalinismus seinen Anfang genommen hätte. Isaak Deutscher geht im Band 3 seiner berühmten Trotzki-Trilogie auf diese Debatte und Trotzkis Replik ein.
C.A.

>>Hinter diesem unwandelbaren Schema der Enttäuschungen und gebrochenen Freundschaften lag die wachsende Erbitterung der radikalen Intelligenz des Westens über ihre Erfahrungen mit der russischen Revolution in allen ihren Aspekten und dem Marxismus. Das war einer jener Wiederholungsprozesse der politischen Bekehrung, die stets so verlaufen, daß die Radikalen und Reaktionäre der einen Ära sich in die Gemäßigten oder Konservativen und Reaktionäre der nächsten verwandeln. Unter den literarischen »Trotzkisierenden« der dreißiger Jahre gab es nur sehr wenige, die man Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren nicht an der Spitze der Kreuzzüge gegen den Kommunismus gefunden hätte. Für diese Kreuzzüge sollten sie eine Vertrautheit mit dem Kommunismus mitbringen, einen scharfen, wenn auch einseitigen Blick für seine schwachen Punkte und einen leidenschaftlichen Haß, den ihnen Trotzki in der Hoffnung eingeimpft hatte, der Stalinismus, nicht der Kommunismus würde sein Objekt sein.
(Natürlich sollten auch einstige Stalinisten, die niemals einem trotzkistischen Einfluß unterlegen waren, in den antikommunistischen Kreuzzügen hervortreten, aber häufiger als gewöhnliche Denunzianten und nicht als ideologische Inspiratoren.)
 
Die Anfänge dieses Gesinnungswandels finden sich zum Teil in der Verwirrung angedeutet, die über einige unwichtigere Auseinandersetzungen ausbrach. Im Winter 1937-1938 stellten Eastman, Serge, Souvarine, Ciliga und andere die Frage nach der Verantwortung Trotzkis für die Unterdrückung des Aufstandes von Kronstadt im Jahre 1921. Sie stellten diese Frage, um dahinterzukommen, wo und wann der Bolschewismus zum ersten Mal jenen fatalen Fehler beging, dem der Stalinismus entsprungen war. Er hatte sich, antworteten sie, in Kronstadt bei der Unterdrückung der Rebellion von 1921 gezeigt. Das war die entscheidende Wendung, die Erbsünde sozusagen, die zum Niedergang des Bolschewismus führte! Aber trug nicht Trotzki die Verantwortung für die Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes? Trat er nicht in jenem Akt als der wahre Vorläufer des stalinistischen  Terrors auf ? Die Kritiker fanden es um so leicher, ihn zu verurteilen, als sie eine höchst idealisierte Vorstellung von der Kronstädter Erhebung hatten und sie als den ersten wahrhaft proletarischen Protest gegen den »Verrat an der Revolution« verherrlichten. Trotzki erwiderte, daß ihr Bild von Kronstadt unwirklich sei und daß die Bolschewiki, hätten sie die Erhebung nicht unterdrückt, der Konterrevolution die Schleusen geöffnet haben würden. Er übernahm die volle politische Verantwortung für diese Entscheidung des Politbüros, eine Entscheidung, die er unterstützt hatte, und er bestritt nur die Behauptung, dass er persönlich den Angriff auf Kronstadt geleitet hätte!
 
Die Polemik wurde mit einer merkwürdigen und unverständlichen Leidenschaft geführt. Man mußte sich nicht die Version Trotzkis zu eigen machen, um zu sehen, daß seine Kritiker dem Kronstädter Aufstand eine übertriebene Bedeutung beimaßen und ihn sozusagen losgelöst vom geschichtlichen Fluß der Ereignisse und ihren zahlreichen Querströmungen behandelten. Kronstadt als das Vorspiel zum Stalinismus verdunkelte in ihren Augen die fundamentalen Faktoren, die den Stalinismus begünstigten, wie die Niederlagen des Kommunismus im Westen, die Armut und Isoliertheit der Sowjetunion, die Müdigkeit ihrer Arbeitermassen, die Konflikte zwischen Stadt und Land, die »Logik« des Einparteiensystems und so weiter. Und so bitter war die Diskussion über die relativ fernliegende und doppeldeutige Episode, daß Trotzi bemerkte: »Man möchte meinen, daß der Kronstädter Aufstand nicht vor siebzehn Jahren, sondern erst gestern stattfand.« Was ihn ärgerte, war, daß seine angeblichen Gesinnungsfreunde ausgerechnet in der Mitte seiner Kampagne gegen die Moskauer Prozesse von ihm über Kronstadt Rechenschaft verlangten. Ferner, während er die gegenwärtigen Hinrichtungen der Frauen und Kinder der Antistalinisten denunzierte, machten ihn Serge und Souvarine für die Erschießung von Geiseln während des Bürgerkriegs verantwortlich. Kam dieses Zetergeschrei nicht Stalin zunutze? Und sahen sie nicht den moralischen und politischen Unterschied zwischen der Art, wie er die Gewalt im Bürgerkrieg anwandte und Stalins gegenwärtigem Terror? Oder bestritten sie der bolschewistischen Regierung von 1918-1921 das Recht zur Selbstverteidigung und Disziplinargewalt?
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“Ich weiß nicht. .., ob es unschuldige Opfer (in Kronstadt) gab… Im kann jetzt, so lange nach dem Ereignis, nicht darangehen zu entscheiden, wer bestraft hätte werden sollen und auf welche Weise. ..besonders da ich keine Daten zur Hand habe. Ich bin bereit zuzugeben, daß ein Bürgerkrieg keine Schule für menschliches Verhalten ist. Idealisten und Pazifisten haben der Revolution immer >Exzesse< vorgeworfen. Die Schwierigkeit der Sache liegt darin, daß die >Ausschreitungen< der eigentlichen Natur der Revolution entspringen, die selbst ein >Exzeß< der Geschichte ist. Mögen jene, die dazu Lust haben (in ihren armseligen journalistischen Artikeln), die Revolution aus diesem Grund verwerfen. Ich verwerfe sie nicht.«
 
Die Kritiker beschuldigten ihn der jesuitischen oder leninistischen Amoral, die in dem Satz vom Zweck, der die Mittel heiligt, begründet läge. Er erwiderte mit seinem Essay “Ihre Moral und die Unsere”, der eine aggressive und beredte Darlegung der Ethik des Kommunismus ist! Der Essay beginnt mit einer Beschimpfungskanonade gegen jene Demokraten und Anarchisten der “Linken”, die zu einem Zeitpunkt, in dem die Reaktion triumphiert, “das doppelte Quantum moralischer Ausdünstungen von sich geben, gerade so wie andere Leute doppelt so viel schwitzen, wenn sie Angst haben.” Sie würden aber ihre Moral nicht den mächtigen Verfolgern, sondern verfolgten Revolutionären predigen. Er akzeptiere allerdings überhaupt kein absolutes Prinzip der Moral. Solche Verabsolutierungen hätten außerhalb der Religion keinen Sinn. Die Pfaffen leiteten sie wenigstens von einer göttlichen Offenbarung ab; aber woher bezögen seine Kritiker, jene “armseligen säkularisierten Priester”, ihre ewigen moralischen Wahrheiten? Vom “menschlichen Gewissen” oder “moralischer Natur” und ähnlichen Konzeptionen, die nur metaphysische Umschreibungen für die göttliche Offenbarung seien.
 
Die Moral sei in die Geschichte und Klassenkämpfe eingebettet und besitze keine unwandelbare Substanz. Sie spiegele gesellschaftliche Erfahrungen und Bedürfnisse wider, und daher müßte sie immer die Mittel zu den Zwecken in Beziehung setzen. In einem eindrucksvollen Absatz “verteidigte” er die Jesuiten gegen ihre moralistischen Kritiker. “Der Jesuitenorden.. .lehrte niemals, …daß jedes Mittel, auch das kriminelle also, zulässig sei, wenn es nur zum >Ziele< führt… Eine solche. ..Lehre wurde den Jesuiten von Protestanten und zum Teil von katholischen Gegnern unterschoben, die keine Bedenken in der Wahl der Mittel zur Erreichung ihrer Ziele hatten.” Die jesuitischen Theologen erläuterten den Gemeinplatz, daß der Gebrauch irgendeines Mittels, das an sich moralisch indifferent sein kann, je nach dem Zweck dem es dient, gerechtfertigt oder verurteilt werden muß. Einen Schuß abzugeben ist moralisch indifferent; einen tollen Hund, der ein Kind bedroht, niederschießen, ist eine gute Tat; zu schießen, um einen Mord zu verüben, ist ein Verbrechen.
(…)
Der Gedanke, daß der Zweck die Mittel heilige, sagte Trotzki, sei in jeder Morallehre enthalten, nicht am wenigsten in jenem angelsächsischen Utilitarismus, von dessen Standpunkt aus die meisten Angriffe gegen die jesuitische und bolschewistische “Amoral” unternommen wurden. Insofern das Ideal “vom größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl” unterstellt, daß alles, was zur Verwirklichung dieses Zieles getan wird, moralisch sei, falle jenes Ideal mit dem “jesuitischen” Begriff der Zwecke und Mittel zusammen. Und, akzeptierten nicht sämtliche Regierungen, selbst die “humanitärsten”, die in Kriegszeiten ihren Armeen die Vernichtung der größtmöglichen Zahl von Feinden zur Pflicht machen, den Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heiligt? Doch auch die Zwecke bedürften einer Rechtfertigung, und Zwecke und Mittel könnten ihre Plätze vertauschen, denn was jetzt als Zweck betrachtet wurde, könne später einem neuen Zweck als Mittel dienen. Für den Marxisten sei der große Zweck, die Macht des Menschen über die Natur zu vermehren und die Macht des Menschen über den Menschen abzuschaffen, gerechtfertigt, und auch das Mittel dazu – der Sozialismus – sei es, und das Mittel für den Sozialismus der revolutionäre Klassenkampf – sei es nicht weniger. Die marxistisch-leninistische Moral werde in der Tat von den Bedürfnissen der Revolution regiert.
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Was seine, Trotzkis, eigene Amoral betreffe, als er befahl, daß die Familien weißgardistischer Offiziere zu Geiseln gemacht wurden, so nähme er für diese Maßnahme, die durch die Notwendigkeiten des Bürgerkriegs diktiert war und die übrigens nach seinem Wissen nie zum Geiselmord führte, die volle Verantwortung auf sich. »Hunderttausende von Menschen wären gerettet worden, hätte die Revolution zu Beginn eine weniger überflüssige Großherzigkeit an den Tag gelegt.« Er vertraute darauf, daß die Nachwelt sein Verhalten so beurteilen würde, wie sie Lincolns Härte im amerikanischen Bürgerkrieg beurteilte: “Die Geschichte hat verschiedene Maßstäbe für die Grausamkeit der Nordstaatler und jene der Südstaatler. Ein Sklavenbesitzer, der List und Gewalt gebraucht, um den Sklaven in Ketten zu legen, und ein Sklave, der List und Gewalt gebraucht, um die Ketten zu zerbrechen – nur verächtliche Eunuchen werden uns erzählen, daß sie vor dem Gerichtshof der Moral gleich sind!«
 
Es wäre eine Verunstaltung der Wahrheit, wollte man der Oktoberrevolution und der “bolschewistischen Amoral” die Schuld an den Grausamkeiten des Stalinismus geben. Der Stalinismus war nicht das Produkt der Revolution oder des Bolschewismus, sondern der Verhältnisse, die von der alten Gesellschaft weitervererbt worden waren – das erklärte den unbarmherzigen Kampf Stalins gegen die alten Bolschewiki, einen Kampf, in dem die urzeitliche Barbarei Rußlands Rache an den fortschrittlichen Kräften und Bestrebungen nahm, die 1917 die Oberhand gewonnen hatten. Ferner, der Stalinismus war der gekürzte Nenner all der “Unwahrheit, Brutalität und Gemeinheit”, die die Mechanik jeder Klassenherrschaft und des Staates überhaupt ausmachen. Die Apologeten der Klassengesellschaft und des Staates, einschließlich der Verteidiger der bürgerlichen Demokratie, durften sich daher schwerlich eine moralische Überlegenheit anmaßen: Der Stalinismus hielt ihnen ihr eigenes Spiegelbild vor, selbst wenn es zum Teil ein Zerrspiegel war.
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Bei seiner vierzigjährigen Erfahrung mit “ideologischen” Auseinandersetzungen fand Trotzki wenig neue oder originelle Gedanken unter diesen Argumenten. Sie müssen ihn an Tichomirows Schrift»Warum ich aufhörte ein Revolutionär zu sein« erinnert haben, der beinahe klassischen Widerrufserklärung.eines alten Narodnikis, der die revolutionäre Bewegung verließ, um seinen Frieden mit der bestehenden Ordnung zu schließen. Seither versuchten in jeder Generation, in jedem Jahrzehnt die Müden und Enttäuschten bei ihrem Rückzug aus dem Kampf oder, wenn sie einen Seitenwechsel vornahmen, diese Frage zu beantworten. Was diesmal neu war, betraf die Heftigkeit der Enttäuschung: Sie paßte zu den wütenden Schlägen, die der Stalinismus dem Glauben und der Illusion versetzte. Niemals hatten sich Menschen aus einem revolutionären Kampf mit einer so tief empfundenen Gefühlsbewegung und echten Empörung zurückgezogen, und niemals hatte eine Sache so hoffnungslos ausgesehen, wie jetzt die Sache Trotzkis den Professoren, Schriftstellern und Literaturkritikern vorkam, die ihn im Stiche zu lassen begannen. Sie meinten, daß sie sich, indem sie für den Trotzkismus Partei ergriffen, unnötigerweise auf das gewaltige, ferne, dunkle und gefährliche Unternehmen der russischen Revolution eingelassen hatten, und daß diese Beteiligung sie in Konfliktmit der Lebensweise und dem Ideenklima brachte, die in ihren Universitäten, Redaktionsstuben und 1iterarischen Sippschaften herrschten. Es war eines, seines Namen für ein Komitee zur Verteidigung Trotzkis und den Protest gegen die Säuberungen herzugeben, aber es war ein ganz. anderes, die Manifeste der Vierten Internationale zu unterschreiben und Trotzkis Ruf zur Umwandlung des bevorstehenden Weltkriegs in einen Bürgerkrieg auf der ganzen Welt einzustimmen. Was Trotzkl erbitterte, war, daß er sehen mußte, wie selbst so alte Freunde und Verbündete wie Eastman und Serge ihm den Rücken kehrten. Er goß die ganze Schale seines Zornes über sie und »ihre Sippschaft « aus…