Hermann Dworczach: Reiner Stach KAFKA. Die Jahre der Entscheidungen (Rezension)

Ein kurzer Prag-Aufenthalt bewog mich, mich erneut mit Kafka auseinanderzusetzen. Ich las wiedermal den „Prozeß“, wollte mehr über dessen Entstehungsprozeß wissen und landete bei Stachs Kafka-Biographie.

————————————-

Stachs methodischer Ansatz besteht darin, sich auf die „Jahre der Entscheidungen“ zu konzentrieren. Auf die Jahre 1910-1915, in denen „in rascher Folge alle Weichen gestellt (werden), die Kafkas weiteren Weg bis zum Ende bestimmen werden“ (Einband-Text).

Diese Konzentration hat auf den ersten Blick einiges für sich. Tatsächlich fallen in diese Jahre Schlüssel-Werke wie „Das Urteil“, „Die Verwandlung“, „Der Verschollene“ (später von Max Brod unter dem Titel „Amerika“ herausgegeben),  und „Der Prozeß“.

In diesen Jahren kommt es auch zu der mehr als verwickelten „Beziehung“ zu Felicitas Bauer, die Stach in all seinen Einzelheiten ausleuchtet. Klar wird wie prägend diese -gescheiterte- Begegnung für das Leben und das Schaffen Kafkas war.

Man/ frau gewinnt wichtige Einblicke in die komplizierte, ja verkorkste Psychostruktur des genialen Schriftstellers- insbesonders seine neurotische  Angst vor Sexualität (1). Als er  etwa Felicitas Bauer wiedergewinnen will, wird ein Treffen in Bodenbach arrangiert.  Die beiden gehen aufs Zimmer, aber Kafka zeigt sich erneut gänzlich unfähig zu erotischen Gesten und liest aus seinem Roman vor….

Auch stilistisch gibt es bei Stach  hervorragende Passagen, in den er sich geradezu filmisch an die Ereignisse in der geschilderten Zeit herantastet.

Die Insuffizienzen des Buchs sind jedoch nicht zu übersehen. Um nur einige zu nennen:

– während der Beziehungs-Kiste und dem Literatur-Betrieb und seinen Zänkereien enorm viel Raum eingeräumt wird, verblassen historische Geschehnisse

– der  Erste Weltkrieg wird zwar -mitunter sehr treffend und drastisch- geschildert, wesentliche Aspekte fehlen jedoch gänzlich: die internationale ArbeiterInnenbewegung, die ständig vor dem drohenden Weltenbrand gewarnt hatte; die schließliche, schändliche Kapitulation der meisten sozialdemokratischen Führungen und deren Einschwenken auf imperialistischen Kriegskurs etc. Diese Aspekte sind auch für Kafka von zentraler Bedeutung: hatte er doch – in seiner Jugend- enge Kontakte zu sozialistischen und anarchistischen Gruppierungen, nahm am 1. Mai teil etc. Michael Löwy hat dazu ein sehr schönes Buch verfaßt: “ Der rebellische Träumer“ (2).

Bezeichnenderweise fehlen bei Stach in der Bibliographie zur Kriegsfrage Namen wie Rosa Luxenburg oder Lenin .

– es rächt sich, sich NUR auf die Jahre 1910-15 zu konzentrieren und keine- starken- Bezüge zu der Zeit davor und danach herzustellen.  Bei dem Problemkreis Sexualität wirft sich die Frage auf: war die Hemmung, ja der „Ekel“ vor ihr  bei Kafka  immer gegeben?; wie steht es mit Bordell-Besuchen?; und wie schaut es später aus: in der Beziehung zu Milena Jesenskaja oder Dora Diamant, mit der der „ewige Junggeselle“ ab 1923 in Berlin sogar zusammenlebte?

Die Wagenbach-Biographien (3), wo sich zu den hier angerissenen Punkten etliches findet, werden  zwar vom Autor erwähnt und gelobt, nicht jedoch substantiell auf sie eingegangen.

Alles in allem: interessante- neue- Einblicke, aber eine umfassende, synthetische Kafka-Biographie steht- ähnlich wie im Fall von Arthur Schnitzler- noch immer aus.

Hermann Dworczak

 

1) Siehe dazu auch: Saul Friedländer Franz Kafka. Verlag C.H. Beck, München 2012

2) Michael Löwy „Kafka- Sognatore Ribelle“, Eleuthera, Milano 2007

3) Klaus Wagenbach Franz Kafka. Biographie seiner Jugend. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006. Klaus Wagenbach Franz Kafka. Rowohlt Monographien Bd. 91. Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1964

Reiner Stach KAFKA. Die Jahre der Entscheidungen.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, 671 Seiten 30,80 Euro.