Gerd Elvers: Aktuelle Anlässe sich mit Marx zu beschäftigen.

Mit Marx kann man sich immer beschäftigen. Aktuelle Gründe geben Anlass,
nicht hundert- fach Bekanntes zu wiederholen, sondern sein Werk auf
einen immerwährenden kritischen Prüfstand zu stellen: Anlass dazu geben
der Abschluss der drei Bücher im ökonomischen Hauptwerk „Kapital“ durch
die Berlin-Branden- burgische Akademie der Wissenschaften in der
Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA).

Weiterhin: Mit der Weltkrise ist eine „Marx-Renaissance“ angebrochen,
die zu neuen Publikationen deutscher Verlage geführt hat. Marx Bedeutung
als Theoretiker und Historiker des Kapitalismus (Werner Sombart) hat
eine brennende Aktualität auch außerhalb linker Kreise erlangt.

Was kann dieser Schöpfer der Moderne uns zur Finanzkrise sagen, zur
Systemrelevanz der „unsterblichen“ Deutschen Bank und der Metaphysik des
Kapitals, zur Rolle des deutschen Justizapparates heute im Vergleich zu
Chicago der Zeiten ‚Al Capones‘?

Vorläufiger Abschluss von Teilen des Gesamtwerkes von Karl Marx

Mit dem Teilband 4.3 der ökonomischen Schriften ist die Abteilung II
(Das „Kapital“ und Vorarbeiten) der Marx/Engels-Gesamtausgabe (MEGA)
abgeschlossen. 15 Doppelbände (jeweils Schriften und Apparat, zwei
Werkziffern mit zusammen neun Teilbänden liegen vor. (1). Es verwundert,
dass erst nach 150 Jahren Marxens Werk in seiner Gesamtheit erfasst
wird, bisher nur ein Teil seines gesamten Oeuvres, wie in der Akademie
ausführlich dokumentiert wird.

Das wirft einige Fragen auf, die seine Arbeitsweise, die Werkgenese,
sowie Interpreta- tion und Weiterentwicklung seiner Arbeiten durch den
sogenannten „Marxismus“ betreffen. Wenn erst jetzt ein Teil seines
Werkes in vollständiger Weise der Öffentlich- keit präsentiert wird, was
war dann vorher? Wie konnten Marxisten auf ihn bauen, wenn sie nicht
seine ganze Arbeit kannten und bis heute nicht kennen?

Diese Einsicht in eine unvollkommene Quellenlage ist nicht neu. Zwar gab
es eine Zusammenstellung der wichtigsten Werke von Marx (und Engels) vor
allem in der Sowjetunion vor dem 2. Weltkrieg. Diese standen aber unter
dem Vorbehalt, dass Lücken bestanden. Es sind die Marx-Engels-Werke
(MEW) im Verlag für fremdsprachige Literatur in Moskau. Diese Arbeiten
hat der Dietz Verlag, Berlin in der DDR publiziert, und auf diesem Weg
fanden die Arbeiten auch in Westdeutschland wieder sein Publikum
(Sozialistischer Deutscher Studentenbund, SDS), nachdem die schon in der
Weimarer Republik und vorher publizierten Bücher weitgehend dem
Vandalismus der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen waren.

Der ukrainische Marxist Roman Rosdolsky, der knapp dem stalinistischen
Terror entkommen war, beklagte sich in seiner deutschen Vorrede zur
Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapitals“ – ein Jahr nach seinem
Tod in den USA – dass in der westlichen Welt nach dem Kriege gerade
einmal 3 oder 4 Werke der „Grundrisse der Kritik der politischen
Ökonomie, Rohentwurf“ von 1939 aus der Sowjetunion vorhanden waren, und
er bedankt sich beim Bibliothekar der Jos. Buttinger-Bibliothek in New
York, O. Bauer, der ihm eines der raren Exemplare zur Verfügung gestellt
hatte (2).

Marx Materialismus als Grundlage seines Denkens

Bevor wir zur Beantwortung der Frage kommen, welche Relevanz die
unvollkommene Quellenlage für die Interpretation von Karl Marx haben
könnte, wenden wir uns der methodologischen Arbeitsweise von Karl Marx
zu. Dass Karl Marx sich der Entzifferung der ökonomischen Gesetze des
Kapitalismus zuwandte und aus ihr das geschichtsträchtige politische
Handeln ableitete, was in seiner Wortschöpfung „politische Ökonomie“
kondensierte, entspringt – wahrscheinlich – seiner „materialistischen“
Denkweise, die er schon in seiner Dissertation über die „Atomisten“
(Demokrit) im Kontrast zu den platonischen „Idealisten“ anwendete. Wie
der neuesten Kommentierung der Engländerin Gereth Stedman Jones zum
Kommunistischen Manifest 1848 zu entnehmen ist, stand beim „frühen Marx“
noch nicht die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft im Mittelpunkt
seines Denkens, sondern die Auseinandersetzung mit Hegel auf der
philosophischen Ebene, dessen idealistische Kopfgeburten er in bekannter
Weise auf die materiellen Füße stellen wollte.

Im Gegensatz zu Hegel war für Marx der Motor der Weltgeschichte nicht
die Entfaltung des „Welt-Geistes, sondern das Aufeinandertreffen
sozialer Kräfte (3). Er wandte sich nicht von Hegel ab, sondern
korrigierte ihn. Nicht ohne eine besondere Motivation. Mit dieser
„kritischen Korrektur“ des damals dominierenden geistigen Übervaters
rettete er dessen dialektische Methodik als markanter Bestandteil seines
eigenen Denkens. Von dem eigentlichen Gegenspieler zu Hegel, dem
dänischen protestantischen Theologen Sören Kierkegaard, der seine
persönlichen existenziellen Nöte in der spekulativen Philosophie von
Hegel nirgends aufbewahrt fand, hat Marx wahrscheinlich nie Kenntnis
genommen, obwohl er in diesem Gründer des Existenzialismus einen
zeitgleichen „Mitleidenden“ hätte finden können.

Weiterer Ausgangspunkt seines „frühen Denkens“ waren die
Frühsozialisten, Adam Smith als Ökonom des modernen Kapitalismus sowie –
was meistens übersehen wird – die historische Rechtsschule von Friedrich
Carl von Savigny. Wie seinem Brief vom 10. November 1837 an seinen Vater
zu entnehmen ist, lernte er in seinem Rechtsstudium zwischen Form und
Inhalt zu unterscheiden, zwischen formalen Begriffsbestimmungen und den
materiellen Inhalten. Eine weitere Erkenntnis war die Geschichtlichkeit
von Rechtssystemen. Es gibt kein „ewiges“ Recht, sondern seine
Abhängigkeit von der Zeit, ein Gesichtspunkt, den er auf die
gesellschaftlich-politische Systeme übertrug.

Die geheimen Gesetze der menschlichen Produktionsweise

Es zählt bis heute zu den nicht geklärten Umständen, warum die
gesetzlichen Abläufe des wichtigen Elements menschlicher
Existenzbewahrung, die Ökonomie, lange Zeit ungeklärt blieben. In der
Antike findet sich kein Autor, der die Grundlagen der Sklavenwirtschaft
mit dem gleichen Ehrgeiz erforschte, wie die Logik, die Mathematik und
Geometrie, die Mechanik, die Ethik, die „res publica“, die römische
Staats- und Rechtsphilosophie. Ein möglicher Erklärungsgrund: Man wurde
in einen bestimmten Stand hineingeboren, in eine vordefinierte Familien-
und Arbeitswelt und empfand diesen Zustand als natürlich, so dass sich
Fragen erübrigten. Heute ist der allgemeine Stand des Wissens,
abgeleitet von Marx` Methodik der Geschichtsinterpretation, dass die
billige Sklavenarbeit innovative Initiativen zur Fortentwicklung der
Gesellschaft versperrte. Das Versagen der antiken Philosophie, das
Nichthinterfragen der Sklavengesellschaft als ein unproduktives System,
wird auch in bürgerlichen Kreisen als ein wesentlicher Grund für den
Untergang des römischen Weltreichs angesehen. Es musste eine
vorderasiatische Religion, das Christentum kommen, um ein morsch
gewordenes ökonomisches Gebilde auf der Basis der Sklavenarbeit hinweg
zu räumen. Allerdings änderte der gottgewollte Gang in die
mittelalterliche Leibeigenschaft nichts Entscheidendes im weiterhin träg
ablaufenden ökonomischen und gesellschaftlichen Prozess.

Erst mit der Entstehung des Kolonialismus, der modernen Handels- und
Geldkontore, der Erfindung der doppelten Buchführung, der modernen
Sklavenwirtschaft sowie dem globalen Welthandel, entstand die erste
philosophisch-ideologisch begründete „Aufklärung“ über die neuen
Zustände nach dem Mittelalter in den höchstentwickelten Ländern England,
Frankreich, Holland. Marx erkannte, dass die im Mantel der Aufklärung
auftretenden neuen Lehren verschleiernde Rechtfertigungen der
gesellschaftlichen Zustände seien Der Philosoph John Locke zum Beispiel
bildete im Dienste der in England entstehenden früh-kapitalistischen
Gesellschaft ein waghalsiges Ideen-Konstrukt, das Freiheit und
Gleichheit der Menschheit allgemein – auf das sich der Kapitalismus bis
heute beruft – mit dem modernen konkreten Sklavensystem Englands im
Speziellen harmonisieren sollte. Nach Franz J. Hingeklammert verband er
das ökonomische Interesse der modernen Sklavengesellschaft mit der
Entfesselung eines freien Marktes wie es auch in die
Unabhängigkeitserklärung der USA von Thomas Jefferson hineingeschrieben
wurde, ..all men are created equal.., mit der Ausnahme der Sklaven(4) .

Nationalökonomische Vorgänger: Quesnay, Smith, Ricardo

Aber auch mit dem Auftreten der gesellschafts- und staatspolitisch
orientierten Philosophen der Aufklärung wurde weiterhin das
Untersuchungsobjekt der Ökonomie als ein die Gesellschaft tragender
Prozess vernachlässigt. Dringende Fragen, nach welchen Regeln die
Ökonomie funktioniert, wie ihre Prozessabläufe sind, wie sich die sich
neu bildende kapitalistische Marktwirtschaft von dem vorangegangenen
Wirtschaftsmodell, dem Merkantilismus, unterscheiden, fanden kaum
Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Was dem Menschen am
nächsten stand, war ihm am fremdesten. Das gilt für sein Wirtschaften
wie für seinen Körper. Es war der Mediziner Francois Quesnay, der als
Vater der Physiokratenschule – noch dem Merkantilismus verhaftet – die
erste theoretische Lösung der Prozessabläufe fand, unabhängig von einer
konkreten Wirtschaftsordnung. Mit der Entdeckung des Blutkreislaufes im
menschlichen Körper bot sich die Analogie für die Wirtschaft an.

Wie das Blut vom Sauerstofftransport aus den Lungen in den Körper zur
Gewinnung von Energie für die Muskulatur und zurück zum Herzen fließt,
bot sich die Zirkulation des Geldes als ein „Transportmittel“ in der
Wirtschaft an, von den Produzenten zu den Konsumenten und von dem Erlös
der verkauften Waren zurück zu den Produzenten, den Arbeitern und den
Eignern der Produktionsmitteln. Marx implantierte das Geld in den
„Zirkulationsprozess des Kapitals“ in seinem 2. Buch des „Kapitals“,
einen Zirkulationsprozess, der in maskierten Metamorphosen
(Umwandlungen) über Geld und Ware zum eigentlichen Ziel führte, die
Profitmaximierung als den Energiemotor des Kapitalismus. In Quesnays
tableau économique, der Abbildung des Kreislaufes, fand Rosa Luxemburg
in ihrem Werk „Die Akkumulation des Kapitals“ den „verzweifelt gesuchten
Übergang“ von der einzelwirtschaftlichen Zirkulation zum „Gesamtkapital
und zugleich zum gesamtwirtschaftlichen Warenaustausch (5).

Erschwerte Arbeitsbedingungen auf dem Weg zum „Kapital“

Um sich ans Werk zu machen, die kapitalistische Funktionsweise zu
enthüllen, studierte Marx in der Mitte des 19. Jahrhundert die
relevanten greifbaren ökonomischen Werke, eine Sisyphusarbeit von 52
Büchern ((Roman Rosdolsky). Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der
aus politischen Gründen aus Frankreich Vertriebene, verfolgt von der
preußischen Staatspolizei in London als Emigrant den dauerhaften
Unterschlupf fand. Ausgerechnet London, der weltweit optimalste Ort, um
eine komplette Übersicht zum Thema Ökonomie für seine Studien in der
British Library zu finden. Der Emigrant Lenin befolgte 50 Jahre später
die gleiche Methodik, wertvolles Quellenmaterial in der Bayerischen
Staatsbibliothek in München für seine Werke zu nutzen.

Die vor kurzem erfolgte Eröffnung zweier pompös ausgestatteter Lesesäle
der Berliner Staatsbibliothek – ein Gesamt-Projekt von einer halben
Milliarden Euro – mag eine Reminiszenz an eine vergangene
wissenschaftliche Arbeitskultur sein, angesichts der heutigen digitalen
E-Book-Welt. Was heute in Sekundenschnelle passieren kann – ein
gewünschtes E-Book aufzuladen und für Studienzwecken zu Hause zu
verwenden – bedeutete zur Marxens Zeit eine mühevolle Arbeit, ein Buch
zu lesen und die interessierenden Passagen in „Heften“ einzutragen, um
zu Hause an Hand der Materialien die Funktionsweise des kapitalistischen
Prozesses zu entschlüsseln.

Noch vor London hatte er sich auf Adam Smith und David Ricardo, die
schottischen Vertreter der neuen liberal-kapitalistischen
Wirtschaftsform, fokussiert, deren Herkunft heute den schottischen
Nationalisten als Argument für die Lostrennung von Großbritannien dient.
Deren Theorie beruht auf Privateigentum, Geld- und Kreditwirtschaft,
Vertragsfreiheit, Konkurrenz auf „freien“ Produkt- und Arbeitsmärkten.
Über die „unsichtbaren Hände“ der Märkte sollte die optimale Allokation
der Produktionsmittel herstellt werden.

Marx Verhältnis zur „klassischen Nationalökonomie“ ist zwiespältig.
Einerseits boten sie einen ersten Einstieg in das Wirken des liberalen
Kapitalismus. Andererseits widerstrebte es seinem Intellekt, an Hegels
Philosophie geschult, den Ideologien des Kapitalismus zu folgen, die er
als „falsches Bewusstsein“ verstand – wobei er die wissenschaftliche
Leistung von Ricardo durchaus anerkannte. Die ökonomischen Klassiker
folgten einem kapitalistischen Ideal, das aus Dissonanzen über den
Marktmechanismus zum harmonischen Ausgleich, zum Äquilibrium führte, was
trotz aller Dynamik, die dem Kapitalismus zu eigen ist, im Widerspruch
zur gesellschaftlichen Realität der Ausbeutung, der krassen Einkommens-
und Vermögensunterschiede steht. Nach einer neuen Studie des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mit der Universität Bremen
wirkt dieser Prozess weiter, so dass „Deutschlands Mitte bröckelt“.

Zitat DIW: „Die Ungleichheit beim Einkommen als auch beim Vermögen hat
weiter zugenommen. Von den zusätzlichen Wohlstandsgewinnen hat in den
vergangenen Jahren nur eine Elite in der Gesellschaft profitiert“. Marx
erarbeitete ein eigenes wissenschaftliches System, um die
Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu enthüllen, wozu auch eine
wachsende Ungleichheit zwischen den Klassen zählt, die systemimmanent
ist und nicht – wie die Sozialdemokratie heute meint – durch staatlichen
Interventionismus aufgehoben werden kann.

Vorwegnahme moderner Disziplinen des Paradigmenwechsels,
Strukturalismus, Systemtheorie, Soziologie und Psychologie in der Denk-
und Arbeitsweise von Marx

Das „Abschreiben“ aus den verfügbaren Büchern zu Ökonomie, um das
Material für die eigene Theorie zu gewinnen, war nicht nur eine immens
zeitraubende Tätigkeit, die Jahre im relativ kurzen Leben von Marx
beanspruchten. Beim Lesen führte er eine erste Selektion durch, was des
Notierens Wert war oder nicht. Die erste Spreu schied sich vom Weizen.
Eine vorgreifende Systematik hat er im Kopf gehabt, wie das
Kommunistische Manifest und andere Schriften vorher belegen. Das
Abschreiben war nicht bloßes Kopieren, es war der erste Schritt einer
kritischen Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Text anderer Denker,
noch nicht geordnet, noch nicht entschieden, aber während des Notierens
geschahen schon die ersten Abwägungen über Bejahung, Verwerfung oder
neutralen Kommentierens.

An seinen Randnotizen der gelesenen Bücher und den Exzerpten ließen sich
seine Gedankengänge rekonstruieren, was noch der philologischen
Aufarbeitung harrt, wie der Brandenburgischen Akademie zu entnehmen ist.

Aber gering ist sein Bemühen um sein Exzerpieren von vorhandenen Büchern
gegenüber den Mühen, die die Entwicklung einer eigenen Methodik,
Begrifflichkeit, Strukturierung zum Verständnis des logischen Systems
des Kapitalismus ihm bereitete. Dabei griff er modernen Theorien voraus.
Seiner Revolutionstheorie im Gesellschaftspolitischen folgte viel später
Thomas Kuhns Paradigmenwechsel im Naturwissenschaftlichen. Kuhn hatte es
besser mit seinem „Traum der plötzlichen Erleuchtung“ als Marx. Dem
Strukturalismus eines Althussers und der Systemlogik eines Luhmann
vorausgreifend, ging er davon aus, dass das Kapital seiner eigenen Logik
folgt, die einer vernunftsbegründeten Analyse zugänglich war – bis zur
Irrationalität. Ohne diese Ordnung in seiner Unordnung hätte der
Kapitalismus nicht seinen weltweiten Siegeszug antreten können.
Zusätzlich benutzte Marx eine „soziologische Form des geschichtlichen
und gesellschaftlichen Denkens“ (Stedman Jones) – bevor die
soziologische Disziplin Jahrzehnte später universitäre Praxis wurde.
Sein Freund Friedrich Engels hatte über die Lage der arbeitenden Klasse
in England eine derartige soziologische Studie geliefert. Seine
Ergebnisse gingen über das rein Ökonomische hinaus. In der „Entfremdung
des Menschen“ hatte er auf materialistischen Wegen – die physische
Trennung des Menschen von seinem Produkt durch das Privateigentum –
zugleich die psychologische Kategorie des „Unbewussten“ entdeckt, das
eine Affinität zu Freuds Begriff der „Verdrängung“ besitzt. Über die
Lektüre von Marx konnte der Proletarier seine Funktion im Kapitalismus
erkennen. Seine Ausbeutung durch das Kapital konnte er am eigenen Leibe
unmittelbar spüren. Aber dieses Erleben aus einem unklaren
Halbbewusstsein heraus in die Sphäre des Erkennens der wahren Ursachen
der Ausbeutung als gesellschaftliches Phänomen und nicht als eine
persönliche Marotte eines Vorgesetzten zu heben, war nur über Marx möglich.

Marx definierte die Moderne am Kapitalismus

Es machte sich bezahlt, dass er eine breite philosophische Ausbildung
besaß, die die anderen „Klassiker der Ökonomie“ so nicht besaßen. Im
„abendländischen Erbe“ von Hegel stehend und in seinem initiativen
modernen Denken war er nicht nur Zeit seines Lebens der anerkannteste
Denker im linkskritischen Milieu sondern beeinflusste auch maßgeblich
die bürgerliche Welt. Begriffe wie Politische Ökonomie, Kapitalismus,
Ausbeutung, Überbau, Klasse, Verelendung, Entfremdung, Mystifizierung,
Ideologie gingen – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – in den
bürgerlichen wissenschaftlichen Apparat ein, trotz aller gegenseitiger
Polemik und unbeschadet der Tatsache, dass das Deutsche Reich ihn wegen
revolutionärer Umtriebe und Vaterlandsverrat vor den Kadi zerren wollte.
Seine Definition der „Moderne“ als ein fortschrittliches ökonomisches
und kulturelles Durchdringen von Gesellschaften durch den Kapitalismus
hat sich allgemein durchgesetzt. Marx stand in seinem Denken und seiner
Arbeitsweise an der Spitze dieser Moderne. Dies sichert ihm bis heute
bleibende Wirkung zu. Die vergiftende Ideologisierung von Marx setzte
erst mit dem Sieg der Oktoberrevolution ein, als das Bürgertum in ihm
posthum nicht nur einen intellektuellen linkskritischen Philosophen
sondern einen weltbewegenden Revolutionär erkennen musste.

Die Aktualität von Marx heute

Was sagt uns Marx heute? Was kann er uns sagen als ein Mensch des 19.
Jahrhunderts, der noch in Newtons Welt lebte, der von der
Dimensionierung des Kosmos keine Vorstellung besitzen konnte, wenig von
der Urbanisierung, der Entkolonialisierung, dem technologischen
Fortschritt, dem unser heutiges Wissen fehlt, das in den letzten 150
Jahren immense Fortschritte vor allem in den Naturwissenschaften gemacht
hat – weniger in den Geisteswissenschaften? In zentralen Punkten seines
Wissenschaftsapparates ist er aktuell geblieben, weil die Grundlagen der
liberalen Ideologie und des Kapitalismus zwar geschichtlichen
Modifikationen zum Neoliberalismus unterliegen, die Stufe des
Imperialismus und der Globalisierung erreicht haben, aber das Kapital
seinen prozessualen krisenhaften Kern und seine Widersprüche bewahrt und
zugespitzt hat. Trotz einer erstaunlich dynamischen Geschichte des
Liberalismus über eine lange Zeitperiode – das muss man als Linker
konstatieren – ist aus dem Kapitalismus seiner Blüte ein
Spätkapitalismus geworden.

Es mehren sich die Zeichen, dass es mit der monopolisierten Hegemonie
des Neoliberalismus zu Ende geht, wie es der Sozialismus des XXI.
Jahrhunderts Lateinamerikas ankündigt.

Und es kommt eines hinzu: Mit dem Untergang des realen Sozialismus, wird
der vom Dogmatismus lange „verschüttete Marx“ wieder bloßgelegt,
zeitgleich mit der Weltkrise. Es gibt keinen Philosophen und
Politökonomen weltweit, der ihm als Kapitalismuskritiker das Wasser
reichen kann. Sein „Kapital“ ist nach Luthers Bibel und Grimms Märchen
(200-Jahr-Feier) das bekannteste Buch international in deutscher
Sprache. Für die Übersetzungen ins Französische und Englische hat er
selber gesorgt und damit seine Begriffe allgemeingültig in diesen
Sprachen kanonisiert, aber nicht ins Spanische oder italienische. So
kommt es – wie ich an anderer Stelle dargestellt habe – dass es
lateinamerikanischen Marxisten Schwierigkeiten macht, z.B. das Wort
„Entfremdung“ im Sinn von Marx so zu übersetzen, dass es ähnliche
Kaskaden von Assoziationen auslöst wie im Deutschen. Wir Deutsche
besitzen den Schatz, Marx in seiner und unserer Muttersprache lesen zu
können.

Marx Einfluss in der bürgerlichen Welt heute

Mit der Befreiung Marx aus dem ideologischen Gefängnis des realen
Sozialismus, verbunden mit der aktuellen Weltkrise, erleben wir eine
erneute Wende nach den Hasstiraden des Kalten Krieges. Es entsteht ein
kulturelles Klima, in dem einige bürgerliche Politökonomen sich
zunehmend gegenüber Marx öffnen. Diesem Trend folgend, hat der
Hansa-Verlag vierzehn Aufsätze von Eric Hobsbawn, einem marxistisch
orientierter Philosophen, wieder publiziert, in dem der jüngst
Verstorbene darlegt, wie Marx die Welt verändert hat und noch immer
verändert (6). Aber schon in der Ära des Kalten Krieges fand der
ökonomische Apparat von Marx Berücksichtigung im westlichen
universitären Bereich. Zu nennen ist mein verehrter Lehrer an der
Münchener Universität Erich Preiser oder Karlheinz Oppenländer, der
frühere Ifo-Präsident, der das angebotsorientierte Wachstumsmodell von
Kaldor hervorhebt, der zentrale Begriffe von Marx wie technischer
Fortschritt, Kapitalkoeffizient, Profitrate in sein Modell eingearbeitet
hat (7.) Diese offene Volkswirtschaftslehre wurde später in den
westdeutschen Universitäten durch die Hardliner des Neoliberalismus mit
wenigen Ausnahmen geschliffen. Nach Reagan und Thatcher trat der
Neoliberalismus seinen Triumpf auch in Deutschland an, ohne auf
nennenswerte Gegenwehr der Sozialdemokratie und Teile der Gewerkschaften
zu stoßen. Mit verhängnisvollen Konsequenzen: Unter seiner geistigen
Führung wurde der Staat entmachtet und die Finanzspekulation entfesselt.
Als Nachfolger von Oppenländer im Ifo-Institut trat mit der Protektion
der CSU-Regierung der Marktradikale Sinn an, der – unbeirrt von der
Krise – weiterhin als „Marktschreier“ des Kapitalismus auftritt und
seine Ware wie ein Hamburger Aalverkäufer anpreist, obwohl sein
Verkaufsprodukt vom Kopf her stinkt.

Komplexe Genese des „Kapitals“: Mitten in der Arbeit wechselt er seine
Methode

Die Gründlichkeit seiner Arbeit, sein Verantwortungsbewusstsein
gegenüber seinen eigenen Ansprüchen bereiteten ihm viele Mühen, die ihn
durch eine selbstauferlegte Disziplin in Krankheiten trieb. Burn-out
würde man heute sagen. Hinzu kam, dass er als „Privatgelehrter“ ohne die
feste Besoldung eines Ordinarius für das Überleben seiner Familie im
Exil sorgen musste. Geldverdienen und wissenschaftliche Arbeit
überforderten ihn manchmal, wenn auch die journalistische Tätigkeit für
diverse Verlage und in der New-York Daily Tribune, der größten Zeitung
in den USA mit über 200 tausend Lesern, ihn zwangen, zu tagespolitischen
Fragen in Europa Position zu beziehen, wie bei der Brandenburgischen
Akademie in ihrer III. Abteilung über den Briefwechsel Januar
1858-August 1859 nachzulesen ist. Auch wenn es Engels war, der ihm einen
Teil der redaktionellen Arbeit für die USA abnahm, weitete sich jenseits
der Enge seiner Gelehrtenstube sein kosmopolitischer Blick.

Die Bockigkeit und Sperrigkeit des kapitalistischen Systems, sich seine
Geheimnisse entreißen zu lassen, verursachte besondere Schwierigkeiten.
Im Vorwort zu den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie,
Rohentwurf stellt das Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut 1939 den
komplexen Ablauf der Arbeit zum „Kapital“ dar, soweit es damals bekannt
war (8). Der Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts hinderte das Institut
nicht, eine textkritische Edition zu wagen. Dieser „Rohentwurf“ als
Vorbereitung für die späteren 3 Bände des „Kapitals“ ist kürzer,
konzentrierter auf den Punkt gebracht und daher „lesbarer“ als es die
Volumina der drei Bände des „Kapital“ danach sind.

In seinem Vorwort bringt der Editor eine erste Übersicht über die
Arbeitsweise von Marx. In einem Brief an Ferdinand Lassalle, einem der
Gründerväter der SPD, dessen „ehernes Lohngesetz“ Marx richtigerweise
als unwissenschaftlich qualifizierte, stellt er sein ursprüngliches
Arbeitskonzept in 6 Büchern dar (9): Vom Kapital (mit einem Vorchapter
von Geld), Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, Internationaler Handel,
Weltmarkt. Die Inhalte hat er während der Exzerption der ökonomischen 52
Bücher schon im Kopf, einiges war schon veröffentlicht, jetzt sollte es
in Form von offensichtlich separat gegliederten Themendisziplinen
ausgefüllt werden. Der Plan der Darstellung war ein gigantisches
Projekt, zu dem es bisher an Vorarbeiten anderer gefehlt hat. Dessen war
er sich zwar bewusst, zog aber nicht die mögliche Konsequenz eines
rationaleren Umgang mit der zur Verfügung stehenden Zeit.

An erschwerenden Arbeitsbedingungen kam hinzu, dass die Einarbeitung in
die unbekannte Materie und die dabei gewonnenen vorläufigen Ergebnisse
ihm nicht vorhersehbare Aspekte eröffnete, so dass er das ursprüngliche
Konzept verwirft, die sechs Büchern auf drei reduziert und nach diesem
neuen Schema unter dem Begriff „Kapital“ weiter arbeitet. Die Pferde
mitten im Strom zu wechseln, ist eine riskante Angelegenheit,
andererseits hätte bei einem Festhalten an dem ursprünglichen Plan die
Gefahr einer Separierung in verschiedene Disziplinen bestanden. Die
Zusammenfassung unterschiedlicher Disziplinen unter dem Totalbegriff
„Kapital“ kommt der aktuell-modernen interdisziplinären Arbeit im
heutigen Wissenschafts-Betrieb nahe. Auch hier erweist sich seine
Modernität.

Briefe als selbstkritische Augenblicksmomente von Marx Schaffen

Unklar ist, ob Marx sich zu jeder Zeit seines eigenen Denkprozesses
bewusst war, ob er also aus sich selber heraus trat, sich von außen
betrachtete, um eine permanente selbstkritische Position zu seinen
Denkschritten einzunehmen. Hegel hatte dazu den dialektischen
Erkenntnisprozess geliefert, dass aus dem Anderssein die eigene
Identität erkenntlich wird. Marx Fehleinschätzungen über die zu
leistenden Volumina seines Opus geben Zweifel, seine Briefe an Engels,
Lassalle, Kugelmann legen dies hingegen nahe. Eine Leistung des
Kapitalismus war die erhebliche Verbesserung des Informationsaustauschs
über ozeanweite Kabel und eine leistungsfähige Post des Vereinigten
Königreiches wie die Reichspost, eines der wenigen reichsweiten
Institutionen über die föderale Struktur des neugegründeten Reiches
hinaus. Die Briefe – soweit sie erfasst und erhalten geblieben sind –
dienten natürlich der Kommunikation, des Vergewisserns der Reaktionen
bei anderen über die Richtigkeit seines Weges sowie der Aufnahme neuer
Anregungen. Sie geben aber auch in ihrem Duktus unverfälscht den
spontanen, intuitiven Fluss seiner Gedanken wieder, noch nicht gezügelt
durch perfektionierende Korrekturen im Hinblick auf ein zukünftiges
Leserpublikum.

Da er in einer englischen Alltagswelt lebte, seine Materialaufnahme im
Wesentlichen englisch war, er aber die deutsche Sprache oft nicht missen
wollte, fließen in seine Satzsentenzen knappe englische Brocken aus der
Umgangssprache ein …you like….vorchapters…after all,.. my own…never
mind, aus denen zu entnehmen ist, dass er sich bei den persönlich
gehaltenen Briefen aus der üblichen strengen Sprachzucht heraus nahm. In
diesen Briefen reflektiert er auch seine Pläne, beklagt sich über die
oft unerträgliche Arbeitslast, über seine Krankheiten. Erst sie geben
einen unverfälschten Eindruck von ihm selbst.

Ein großes Gesamtwerk und doch unvollkommen

Es zählt zu den Merkwürdigkeiten in seiner Vita, dass er den Rohentwurf
der Grundrisse zwar zur Publizität freigab, von den drei Bände des
„Kapitals“ aber, die er aus dem Rohentwurf „gezimmert hatte“, nur den 1.
Band selber komplett fertig stellte und zur Publikation freigab. Die
anderen zwei Bände – obwohl schon das meiste erarbeitet war – ließ er 15
Jahre bis zu seinem Tode unpubliziert liegen, als ob er ihrer
überdrüssig geworden wäre. Wo blieb seine Selbstverantwortung für sein
epochales Werk? Nach seinem Tod musste Friedrich Engels daran gehen, die
überlieferten Manuskripte nach ihren Inhalten zu ordnen, was angesichts
der nicht linearen Genese kein leichtes Spiel war. Im Vorwort zum 3.
Band über den Gesamtprozess der Kapitalistischen Produktion beklagt sich
Engels wortreich über den Verhau, den sein toter Freund ihm überlassen
hatte (10). Dies betraf „besonders den Abschnitt V. für den kein
fertiger Entwurf vorlag, nicht einmal ein Schema, dessen Umrisse
auszufüllen wären, sondern nur ein Ansatz von Ausarbeitung, der mehr als
einmal in einen ungeordneten Haufen von Notizen, Bemerkungen,
Materialien in Auszugsform ausläuft. ..Mir blieb nichts übrig, als die
Sache in gewisser Beziehung übers Knie zu brechen, mich auf möglichste
Ordnung des Vorhandenen zu beschränken, nur die notdürftigsten
Ergänzungen zu machen“.

Das war 1893, lange nach dem Tod von Marx. Die Entschuldigung, dass
seine Krankheitsschübe Unordnung in ein großes Werk brachte, ist nicht
schlüssig. In den 15 Jahren nach dem Abbruch der Arbeiten war Marx nicht
ständig krank. Er befasste sich vornehmlich mit vormarktwirtschaftlichen
Formen der Ökonomie. Stedman Jones spekuliert, dass Marx „in eine Falle
gelaufen sei, den Kapitalismus durch eine vormarktwirtschaftliche Form
zu ersetzen“, also ein Rückfall aus der Moderne in die Vormoderne, eine
unhaltbare Position, die er erkannt hätte. Sein Schwiegervater Lafargue
hingegen berichtet, dass die selbstverpflichteten ökonomischen Studien
am „Kapital“ bei ihm zunehmend unbeliebt wurden, und er viel lieber eine
Logik und eine Geschichte der Philosophie geschrieben hätte (11).

So kommt es, dass das zweiundfünfzigste Kapitel über die Klassen, nach
942 Seiten des dritten Bandes, folgendermaßen endet: „Dasselbe gälte für
die unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen, worin die
Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, die Arbeiter wie die Kapitalisten
und Grundeigentümer – letztre z. B. in Weinbergsbesitzer, Äckerbesitzer,
Waldbesitzer, Bergwerksbesitzer, Fischereibesitzer – spaltet“. Darauf
der Kommentar des Bearbeiters Friedrich Engels: „Hier bricht das
Manuskript ab. (F. E.)“.

Gut, dass Marx sich anderswo ausführlich über die Klassen geäußert hat,
die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Klassenkämpfe….

Die philologische Aufwertung von Marx Werk durch Engels

Das Schlusswort von Engels zum dritten Band lässt uns zu der
anfänglichen Frage zurückkommen, wie aus einem unvollständigen Werk
gültige Schlussfolgerungen gezogen werden können. Den puristischen
Usancen der damaligen wissenschaftlichen Welt entsprach es, dass nur die
vom Autoren autorisierten, signierten und publizierten Bücher ihm
zuzuschreiben seien. Aber nicht nur bei der wissenschaftlichen Exegese
der Texte, die noch nicht abgeschlossen ist, muss von folgendem
ausgegangen werden: Aus der Genese der Werke von Marx ergibt sich, dass
alle „Produkte“ von Marx, die „per manus“, durch seine Hand gegangen
sind – Exzerpte, Vorentwürfe, Entwürfe, Briefe, Manuskripte, nicht zu
vergessen die Randnotizen auf den von ihm zusammengestellte Materialien
– dass dies alles gleichberechtigte, relevante Teile seines Gesamtwerkes
sind. Dies gilt auch für die gemeinsamen Publikationen mit Engels und
dessen Füllen von Lücken, wenn Engels seinen eigenen textlichen Beitrag
„im Geiste von Marx“ verdeutlichend markiert hat. Die Sozialisten der
Welt, einschließlich Marx selbst können sich glücklich schätzen, in
Friedrich Engels einen Menschen zu haben, der von Marx Arbeit vieles
„gerettet“ hat, was vielleicht nach seinem Tod der Menschheit verloren
gegangen wäre. Eine nicht allzu ferne Analogie zu Franz Kafka drängt
sich auf, dessen Freund Max Brod vieles für die Nachwelt gerettet hat.
Deshalb ist die einheitliche Aufarbeitung der Arbeiten von Marx und
Engels in der Gesamtausgabe berechtigt.

Marx lesen vor selbsternannten „Marxisten“

Wie steht es aber mit der Bewertung der selbsternannten „Marxisten“?
Angesichts des gigantischen Volumens, das Marx hinterlassen hat, der
komplexen Kompliziertheit seiner Arbeiten, die der Komplexität des
kapitalistischen Untersuchungsobjekts entsprach und der auch dadurch
gegebenen Unübersichtlichkeit seiner Arbeiten – Eric Hobsbawn spricht
gar von verwirrend und unklar – lagen verkürzende Verdeutlichungen oder
„Popularisierungen“ in „Volksausgaben“ (DDR-Publikationen), auf der
Hand, aber mit problematischen Konsequenzen. Ein breiter Strom von
selbstproklamierten Nachfolgern in seinem Geist, von Epigonen,
Interpreten, „schöpferischen Anwendern“, Scharlatanen zieht sich hinter
seinem Werk. In wichtigen Momenten der Geschichte wurde aus dem
marxistischen Strom ein Rattenschwanz. Und dies nicht nur in der Zeit
Stalins.

Ein Beispiel für den weitverbreiteten intellektuellen Verrat an Marx
bildete das nachstalinistische „Lehrbuch der Grundlagen der
marxistischen Philosophie, in der 2. Ausgabe in der DDR als russischer
Nachdruck von 1964 (12). Unter Berufung auf die „Weltanschauung“ von
Marx – als gäbe es bei ihm eine geschlossene Schau der Welt – heisst es
dort: „Der dialektische Materialismus ist die einzige Philosophie, die
sich auf das feste Fundamt der gesamten modernen Wissenschaft stützt (S.
25). Auf der Grundlage dieser „festen Stütze“ erfolgt ein Rundumschlag
gegen Karl Jaspers, der …“das Vertrauen zu den Kräften der menschlichen
Vernunft untergräbt“. Gegen die Psychologie des Subjekts von Albert
Camus wird Front gemacht. Ein möglicher Dialog mit verschiedenen
europäischen Geistesströmungen wird als „Eklektizismus“ verschrien. „Als
Eklektizismus bezeichnet man die mechanische, prinzipienlose Verbindung
verschiedener geistiger Richtungen“. Das kann im Einzelfall schon sein,
aber darum geht es dem „Lehrbuch“ gar nicht. Es geht darum, die eigene
Unfähigkeit zum Dialog mit anderen Denkrichtungen – westlichen oder
maoistischen – zu dogmatisieren.

Der englische Philosoph Bertrand Russell versuche, „die Grundfrage der
Weltanschauung zu umgehen“ (S. 22), aus gutem Grund, war doch die
„marxistische Weltanschauung“ in ihrem Totalitätsanspruch zu einem Dogma
erstarrt. Ein marxistischer Säulenheiliger ist bis heute bei einigen
Georg Lukács, der zwischen Nietzsche und Hitler eine lineare Kausalkette
zieht, ohne vorher eine kritische Exegese von Nietzsches Werk zu
leisten, z.B. die Verfälschungen seiner Gedankenwelt durch seine
Schwester mit zu berücksichtigen. Der letzte Satz dieses Machwerkes
lautet (S. 730): Das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion
begründete für die gesamte Menschheit wissenschaftlich den Weg in die
Zukunft. Diese Zukunft ist der Kommunismus“.

Marxistische Originale, schöpferische Anwender oder Meister von Samples,
Kopieren, Plagiieren und Weglassen

„Marxisten“ kann man nicht über einen Kamm scheren. Lenin fällt – wegen
seiner überragenden Einheit von seiner Theorie und seiner revolutionären
Praxis – aus dem Schema von „Marxisten“ heraus und hat neben Marx und
Engels eine eigene „Statur“ im sozialistischen Olymp, auch wenn
vielerorts seine Statue gestürzt worden ist. Rosa Luxemburg ist eine
hervorragende Anwenderin marxistischer Theorie, verbunden mit der
Demokratie, Bebel und Wilhelm Liebknecht sind sozialistische Praktiker
im Kaiserreich. Es sei der Urteilsschärfe eines jeden überlassen, welche
kritische Position er zu seinem Lesestoff einnimmt – kritisch sollte
sein Urteil sein und den Mantel des eigenen Denkens nicht an der
Garderobe vorgefasster Positionen abgeben. Auch könnte es nicht schlecht
sein, aus dem heutigen Zeitgeist der bürgerlichen philosophischen
Rhythmen Ideenfetzen zu sampeln, die den sozialistischen Kanon
bereichern könnten, in die Richtung, dass Marx-fremde Produktionen
kreativ für einen offenen, analytischen Marxismus verwendet werden.

Bloße Kopien sollten dem Copyright des Originals unterliegen und
Plagiatoren, die Marx unter ihren Namen verwenden, sollten zur Seite
gelegt werden. Der Ideen-Klau mit copy und paste sollte ohne Angabe des
Originals vermieden werden. Als problematisch sind die zu bewerten, die
sich wie die Linkspartei sozialistisch nennen, aber in ihrem Programm
Kernbereiche wie die kommunistische Utopie weglassen. Sicherlich, ob
diese Utopie jemals eine Chance haben wird, ist ungewiss. Aber in der
Postmoderne finden die am ehesten Gehör, die für die große – und wenn
man so will – emotlionalen Phantasien ihrer Zeit eintreten, zumindest in
Westdeutschland. Als Erinnerungsposten sollten die Weglasser zumindest
in ihrer Bibliothek das Kommunistische Manifest für zukünftige Zeiten
aufbewahren. Ideologische Verengung von Ideen-Räumen ist von Übel. So
viel sollte man aus der jüngeren Geschichte gelernt haben.

Dogmatische Züge bei Marx werden durch geschichtliche Abläufe korrigiert

Jede Abschottung gegen andere Geistesströmungen ist gegen die
Arbeitsweise von Marx gerichtet, der in der europäischen,
philosophischen Tradition der Aufklärung stand und der seine
Wissenschaftlichkeit in der dialektischen Auseinandersetzung mit
konkurrierenden Geistesströmungen suchte. Allerdings mit der
theoretischen Bewältigung der selbstgestellten Aufgabe, die Gesetze des
Kapitalismus enthüllt zu haben und somit die ökonomischen Bedingungen
zur Selbstverwirklichung der Menschen erkannt zu haben, trat er in einer
„aristokratischen Überlegenheit“(13) gegenüber anderen Menschen auf, die
dieses Gehabe als überheblich empfanden. Geleitet von seinem
überwältigenden Wissen sprach er in imperativen, keinen Widerstand
duldenden Worten.

Aus seinen historischen Studien und konkreten Erfahrungen musste er aber
wissen, dass die geschichtlichen Abläufe nicht quasi automatisch in
seinem Sinne liefen. Die 48-Ereignisse oder die erste weltweite
Finanzkrise Mitte des 19. Jahrhundert mündeten nicht in die Revolution,
wie er anfänglich erwartet hatte. Bei dem ersten proletarischen Aufstand
in der modernen Geschichte, der Pariser Kommune, die nur einige wenige
Monate dauerte, bevor sie niederkardätscht wurde, musste er sich mit der
Rolle eines außenstehenden Zuschauers und Kommentators begnügen. Wenn
die Massen selber die Sachen in die Hand nahmen, konnten Politikökonomen
schwerlich eingreifen. Lenin war ein größerer Revolutionspraktiker. Ihm
kam seine Zeit eines krisengeschütteten Russland entgegen, das mit dem
sich industrialisierenden Kaiserreich Bismarcks nicht vergleichbar war.
Marx hielt zwar die Ideale der Einheit von Theorie und Praxis hoch,
musste aber Niederlagen in der Praxis einstecken.

Die intensive Beschäftigung mit geschichtlichen Abläufen musste ihn
Vorsicht lehren. Die Enthüllung der kapitalistischen Gesetze beschränkt
sich auf ihr inneres Gefüge, auf ihre Funktionsweise, sie weist nicht
auf die konkrete Richtung, die Geschichte einschlägt. Der tendenzielle
Fall der Profitrate z.B. eröffnet zwar die Möglichkeit einer
Fundamentalkrise des Kapitalismus, wann aber diese eintritt und unter
welchen konkreten Bedingungen ist damit nicht entschieden. Wer glaubte,
die geschichtlichen Abläufe auf seiner Seite zu haben, sah sich oft
getäuscht. Die materialistische Geschichtsauffassung bot zwar
wissenschaftliche Maßstäbe an, mit denen man ihre Gültigkeit an
abgeschlossenen Abläufen erproben konnte. Das zukünftige Geschehen hängt
aber von zu vielen neuen – vorher noch nicht erprobten – Imponderabilien
ab, als dass schlüssige Prognosen möglich wären. Daran scheitern alle
deterministischen Geschichtsmodelle. Dem steht nicht entgegen, dass in
historischen Fällen marxistische Führer – Lenin, Mao, Ho Chi Minh –
Geschichte bestimmen können.

Endzeitperspektiven der kommunistischen Utopie, die eine hohe
Emotionalität evozieren, sind theoretische Konstrukte, die sich aus
Marx` Kapitalismuskritik logisch ergeben. Ob die Menschheitsgeschichte
diesen Weg einschlägt, steht in den Sternen, von denen Hegel in einem
Gespräch mit Heinrich Heine sagte, sie seien ein „reiner Aussatz des
Himmels“, nicht bedenkend, dass wir Menschen aus diesem Sternenstaub
bestehen (14).

Die neu gewonnene Bedeutung von Marx in der Weltkrise

Der Neoliberalismus, der von der Beherrschbarkeit einer Ökonomie im
Gleichgewicht ausging, ist von der realen Geschichte und durch Marx Werk
widerlegt worden. Die aktuelle Weltkrise ist die geschichtliche
Bestätigung dessen. Dass dies noch kein Allgemeingut ist, sei der
menschlichen Trägheit anzulasten. Die Indizien sind eindeutig: Das
Krisenmanagement auf der Basis des Kapitalismus gerät von einer Blamage
in die andere. Umso erwartungsvoller richten sich die Blicke auf Marx,
war er doch der Fundamentalkritiker des Kapitalismus, der die Krise als
sein Wesenselement analysiert hatte.

Nach Marx ist die Finanzkrise (Euro-Krise) ein Teil der Gesamtkrise des
Kapitals. In seinem Zirkulationsmodell ist „Geld“ ein Glied in der Kette
der Metamorphosen von Arbeit – Kapital- Ware – Wert – Mehrwert. Daraus
folgt, dass Rettungs-Maßnahmen, die isoliert auf die Finanzen-,
Schulden- Bankenwelt angesetzt sind, wenig bringen werden. Diese
Erkenntnis greift immer mehr auch in der bürgerlichen Welt um sich,
einschließlich Merkel. In deren Worten: Ohne eine Rekonstruktion der
realen Güterwelt, der Steigerung der Produktivität, des Wettbewerbs auf
den Weltmärkten, werden nicht die Exporterlöse erzielt werden können,
mit denen ein Schuldenabbau und Kreditrückzahlung dauerhaft erfolgen
kann. Weitere Einschnitte ins Soziale kappen nur weiter die Kaufkraft
und vertiefen die Krise. Eine Industrialisierung ist aber in
Griechenland – wie in Spanien, Portugal – in absehbarer Zeit nicht
möglich. No solution possible.

Und was würde Marx sagen? Er würde auf seine Arbeitswertlehre verweisen:
Austauschwerte von Gütern und Dienstleistungen über äquivalente
Arbeitsstundenbilanzen ohne Geld, also Abschaffung des Geldes durch eine
Art Barter-Geschäft. Kein Geld – keine Finanzkrise – die fundamentale
Lösung. Dies habe ich an anderer Stelle in „Scharf-Links“ dargestellt.
Aber wenn ein deutsch-mexikanischer Marxist wie Heinz Dieterich, der
zeitweise als Berater bei Chavez und Castro diente, solche Vorschläge
unterbreitet, stößt er sofort auf die harte Realität eines nach
Geldgesichtspunkten organisierten Globalismus, den auch sozialistische
Länder wie Venezuela und Kuba zu berücksichtigen haben.

Marx könnte mithelfen, die kapitalistische Theatralisierung des
Politischen zu beenden

Der Kapitalismus hat sich den Staat untergeordnet. Das Skandalöse der
mafiosen Finanzkapitale schlägt eine Kapriole nach der anderen.
„Systemrelevante“ Banken erpressen den Staat und lassen sich durch die
Steuerzahler retten. Und dennoch verlaufen die Reaktionen gedämpft ab,
weil Staat und Gesellschaft in Deutschland im Drogenrausch einer
exportorientierten Sonderkonjunktur steht. Ein Bewusstsein, dass es sich
nicht um eine der bisher üblichen Konjunktur- sondern Systemkrise des
Kapitalismus handelt, fehlt bisher in der bürgerlichen Gesellschaft und
Politik. Man geht von der Illusion aus, dass Lösungsansätze innerhalb
des Systems zu finden seien. Diese Beharrlichkeit ist nicht nur ein
ökonomisches, es ist ein kulturelles Phänomen. Marx hat schon vor 150
Jahren in einer „normativen Aufklärungsarbeit (Jürgen Habermas) die
Innereien des Kapitalismus seziert. Er hat den Kapitalisten und ihren
Helfershelfern den Spiegel vorgehalten und ihnen ihre Schuldlosigkeit
genommen, aber sie beharren – mit Zustimmung vieler – immer noch darauf.
Der kritische Moralist Peter Handke sagt zu seinem siebzigsten
Geburtstag: Die Unschuldigen sind heutzutage die schlimmsten, die
richten das größte Unheil an. Zu Shakespears Zeiten wussten die
Bösewichter wenigstens, dass sie schuldig sind (15). Die Traditionen von
zweihundert Jahren Liberalismus halten viele gefangen. Marx Erbe ist
fast genau so alt. Er war und ist der wichtigste Antipode gegen die
Kapitalisten, der ihnen ihre Unschuld nehmen kann. Im
antiimperialistischen Kampf bietet Marx die Inhalte, mit denen der
aktive Kampf mit Protesten, Demos, direkte Aktionen geführt werden kann.
Man muss ihn wieder lesen, phasenweise, nicht permanent, um nicht an der
trockenen Ökonomie die Lust zu verlieren. Und er hat uns Überraschendes
zu sagen. Zum Beispiel wie es um die Ethik steht und die Deutsche Bank.

Unsterbliche Deutsche Bank und die Metaphysik des Kapitals

„36 Banken sind unsterblich“, titelt die Süddeutsche Zeitung am 18.
Dezember 2012. Am unsterblichsten dürfte die Deutsche Bank sein. Hitler
konnte in seinem III. Reich der Deutschen Bank, die in den eroberten
Gebieten hinter der Wehrmacht eifrig Filialen errichtete, nur eine
Lebensgarantie von tausend Jahren geben. Das kapitalistische Welttheater
will systemrelevanten Banken eine dauerhafte Lebensversicherung bieten.
Systemrelevante können damit rechnen, dass sie vom Steuerzahler aus
Krisen heraus geboxt werden können. Geht es doch um das System. Ohne
Deutsche Bank kein deutscher Kapitalismus.

Gehen wir das Thema „unsterblich“ philosophisch an. Nach Kant zählt der
Begriff „unsterblich“ zur transzentralen Dialektik im Rahmen der
Metaphysik, die zwar in der Natur der Vernunft liegt, aber in der realen
als Schein zu bewerten ist (Wikipedia). Unsterblichkeit hat nur in der
Religion ihre Gültigkeit. Die Bankenaufsicht Bafin und Finanzminister
Schäuble, die die Garantie für das Überleben der relevanten Banken und
damit des Kapitalismus geben, handeln metaphysisch.

Aber es geht schon gar nicht mehr um Schein oder Sein. Während man den
systemrelevanten Banken ihr Überleben garantiert, will die Europäische
Union sie zugleich zu Testamenten zwingen, um im Fall ihres Ablebens ein
rasches Abwicklungsverfahren in der Hand zu haben. Was denn nun?
Existenzsicherung oder Testament? Man muss sich ernsthaft um den
Geisteszustand der Vertreter des Spätkapitalismus Sorgen machen. Marx
ging noch von Vernunftstrukturen im Rahmen des Irrationalen aus, das im
Totalen des Systems eingefasst war. Heute drängt sich das irrationale
Ganze nach vorn. Die Ohnmacht der Protagonisten ist die Folge, und ihre
Angst eliminiert einen Rest von Vernunft. In einem haben die Vertreter
aber das Niveau von Marx erreicht: mit ihrem Begriff der Systemrelevanz.
Stürzen die Banken, stürzt das Kapital.

Marx: Gier nach Profitmaximierung Lebenselexier des Kapitals

Um so lächerlicher ist die Opposition zu beurteilen. In demagogischer
Berlusconi-Manier wollen Peer Steinbrück und Jürgen Trittin die bösen
Finanzjongleure gemeinsam zum Schwerpunkt ihres Bundestagswahlkampfes
machen, weil die Frau Merkel durch Nichtstun den Gerechtigkeitssinn der
Bürger verletze. Vom Sozialdemokraten Steinbrück, dem Mann ohne Herz
(Bild-Zeitung) und vom Kapital Honorierten, kann man nichts anderes
erwarten. Dass Trittin dabei ist, verwundert jedoch, müsste er als altes
Mitglied des Kommunistischen Bundes (KB) wissen, dass Wetten zum
kapitalistischen Geschäft zählen und Bankchefs Chraktermasken des
Kapitals sind.

Die Gier der Banker und Hedgefondsverwalter wird vom Primat der
Profitmaximierung gesteuert. Gier ist ein konstituierendes Element des
Kapitalismus, sein Lebenselixier. Je riskanter die Wetten desto höher
das Profitversprechen – falls es gut geht. Die Finanzspekulanten würden
pflichtvergessend handeln, falls sie ihre Chancen nicht nutzen. Nicht
die Wettgeschäfte als solche sind ein Ärgernis. Laufen sie gut, reiben
sich die Vorstände die Hände, vielleicht stocken die Banken ihr
Eigenkapital auf und sichern auf diese Weise die Arbeitsplätze.
Spekulationen können also nach der kapitalistischen Logik Arbeitsplätze
sichern, das sei den beiden deutschen populistischen Berlusconi-Jüngern
gesagt. Das Ärgernis liegt in den Fehlgeschäften, was Wetten so an sich
haben sollen.

Deshalb haben die Geldhändler Recht, wenn sie die Aufregung in der
Öffentlichkeit und bei Politikern nicht verstehen können. Sie tun ihr
Bestes. Ein Unrechtsbewusstsein fehlt ihnen berechtigterweise. Wenn
Handke zu seinem Urteil kommt, die Unschuldigen seien die Bösewichter,
urteilt er vielleicht aus einer naiven Position heraus. Marx kann er
nicht zu seinem Zeugen machen.

Staatliche Pose gegen unschuldige Kapitalisten

Die Justiz erfüllt ihre Pflicht oder sie versucht es. Der Staat tut so,
als wolle er einen Teil seiner an das Privatkapital abgegebene Macht
zurückgewinnen. Gegen die letzten drei Vorsitzenden der größten Bank der
Welt, die Deutsche, gegen Breuer, Ackermann und den amtierenden Fitschen
laufen Ermittlungsverfahren. Der unschuldige Fitschen interveniert beim
hessischen Ministerpräsidenten gegen den „ungeheuren Überfall“ von 500
Polizisten auf seine Bank, in dem er eine „Rufschädigung“ sieht. Die
Politiker wiederum empören sich über die versuchte Behinderung der
Staatsanwaltschaft. Wann hat es das schon mal gegeben, dass sich die
Staatsanwaltschaft die Creme de la Creme des Finanzkapitals herannimmt?
Es kommt zu dramatischen Szenen in Frankfurt. Fitschen versammelt
während der Untersuchungsaktion im Zentralgebäude 3000 Angestellte, um
zu trösten. Viele haben Tränen in den Augen. Aber keine Sorge. Die
Ermittlungen werden nicht zum Sturz der Chefs führen.

Aus der Sicht von Marx wären die aktuellen Aufregungen über angeblich
kriminelle Aktionen „Peanuts“ gegen das „normale“ Bankgeschäft: Die
Orientierung an die Profitrate von 25 Prozent, die Ackermann durch
Massenentlassungen und durch Londoner Finanzgeschäfte angepeilt hat. Die
bankeninternen Boni-Zahlungen, um den Kunden Immobilienschrott
anzudrehen. Die Kreditklemme, die Millionen von Arbeitsplätzen gefährdet.

Durch Posen, die nicht den Kern berühren, will die Politik das gestörte
Rechtsempfinden wieder herstellen. Die Deutsche Bank gelobt aufgrund des
Drucks von außen einen „Kulturwandel“, nicht aus innerer Einsicht, weil
man an seiner Unschuld festhält. „Doch bei allen Bekenntnissen zum
Wandel ist eines geblieben: das gnadenlose Streben nach Bestleistungen“
(16). Das Ziel der neuen Doppelspitze der Deutschen Bank von 12 Prozent,
ist kaum weniger profitgeil als Ackermanns 25 Prozent, wie die SZ
feststellt: „Denn umgerechnet kommt man auch hier auf einen Wert, der
nur knapp unter Ackermanns Latte liegt.

Deutschlands Rechtssystem auf dem Niveau von Chicago zu Zeiten von Al Capone

Karl Marx hat als Student von Friedrich Carl von Savigny´s historischen
Rechtsschule gelernt, dass Systeme ihre jeweilige historische Prägung
haben – es also kein absolutes Recht über die Menschheitsepochen hinweg
gibt – und dass zwischen der Form und dem Inhalt zu unterscheiden ist.
Auf diese neue Gewichtung in der Interpretation von Marx´ Biographie
legen angelsächsische Historiker Wert.

Der Staat in der Vertretung von Staatsanwälten will das Kapital als
Ganzes durch ein paar Korrekturen retten. Dafür sollen ein paar Köpfe
der oberen, mittleren und unteren Etagen rollen. Aber die Kapitalseite
bleibt uneinsichtig. Aus der Sicht ihrer Unschuld verständlich. Sie
rüstet mit einem Schirm von Rechtsanwälten auf. In ihrem kernigen
spekulativen Profitgeschäft ist sie durch die Justiz kaum angreifbar,
wenn es an Vorsatz, grober Fahrlässigkeit und kriminellem Bewusstsein
fehlt. Die ganze Wucht des Strafgesetzbuches, mit dem jeder kleiner
Ladendieb behelligt wird, bleibt zumeist in der Schublade. Die Justiz
muss das Aktienrecht heranziehen. Dort geht es schließlich um
Verletzungen innerhalb der Kapitalistenklasse, und in dem Punkt hört der
Spaß auf.

Warum kommt die Erinnerung an die Zeiten während der Prohibition in
Chicago auf? Heute geht es nicht um Mord. Aber in einem gleicht sich die
Szene. Al Capone konnte man unter dem Schirm seiner Rechtsanwälte nicht
wegen hundertfachen Mordes behelligen. Es musste das Steuerrecht heran
gezogen werden, um ihn für ein paar Jahre ins Kittchen zu bringen.

Vor kurzem ist der Chefkommentator des deutschen Aktienrechts gestorben.
Er war Professor einer Institution, die einstmals als
„Arbeiteruniversität“ gegründet worden war. Der Mann war ein geachteter
Mann in der Gesellschaft. Seine Professur zeichnete ihn als Kenner der
Materie bis in die kleinsten Winkel des Aktienrechts aus. Er war der
geeignete Gutachter für den Verteidiger des Chefs der Deutschen Bank
Ackermann 2003, um dessen verwundbare Flanke im Aktiengesetz zu
schützen, dort wo es innerhalb der Kapitalklasse um das Ganze geht wie
Verletzungen der Rechte von Hauptversammlungen und Aktionären durch
Vorstände oder „Veruntreuung“ von Vermögen. Das in der Rechtsprechung
bis heute gültige Ergebnis des Gutachters: Fehlen Verletzungen nach dem
Aktienrecht, kann das Strafrecht nicht herangezogen werden. Die für
Ackermann erfolgreiche Argumentation des professoralen Gutachters:
„Maßnahmen, die mit aktienrechtlichen Bestimmungen übereinstimmen,
können unter keinen Umständen strafbar sein. Nicht jede unternehmerische
Entscheidung kann unter die Sanktionen des Strafrechts gestellt werden.
Das Strafrecht kann lediglich als „ultima ratio“ bei massiven
Rechtsverletzungen eingesetzt werden“ (17). Ehrenwerte Männer in einer
ehrenwerten Gesellschaft. Oder doch nicht? Für Marx ging es nie um
bürgerliche Moral oder Unmoral oder um geltendes Recht. Manche sagen, er
sei amoralisch gewesen. Das ist ein Missverständnis. Ihm ging es darum,
das System revolutionär zu ändern. Darin zeigte sich seine Ethik als
realer Humanist.

1. Homepage der Berlin-Brandenburgischen Akademie
2. Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital“,
Nördlingen. 1968
3. Gereth Stedman Jones: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und
Friedrich Engels, Einführung, Text, Kommentar, München 2012
4. Franz J. Hinkelammert, El sujeto y la ley, La Habana, 2006, S. 81 ff
5. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913, S. 19 ff
6. Eric Hobsbawn, Wie man die Welt verändert, München 2012
7. Karlheinz Oppenländer; Die moderne Wachstumstheorie, Berlin-München 1963
8. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie,
(Rohentwurf), Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau, Berlin (Ost) 1953
9. Marx an Lassalle, den 22. II. 1858 (Lassalle-Nachlass, S. 116/117)
10. Karl Marx, Das Kapital, Buch III, Berlin (Ost), 1959
11. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut,
Stuttgart, 1955, Einleitung
12. Grundlagen der marxistischen Philosophie, nach der zweiten
überarbeiteten und ergänzten russischen Ausgabe, Berlin (Ost), 1965
13. Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut,
Einleitung, S. XLVI
14. Laudatio von Alexander Kluge auf Jürgen Habermas bei der Verleihung
des Heine Preises 2012 im September in München.
15. Peter Handke im Interview mit Cristine Dössel, SZ 6. Dezember 2012
16. SZ 19. Dezember 2012
17. Handelsblatt 19. 09. 2003

Gerd Elvers
27. Dezember 2012, Oberhausen