Boris Kagarlitzki: EIN SELTSAMER UMSTURZ (Auszüge aus “Die Quadratur des Kreises”)

Sowjetunion 1991

19. August 1991 – Sowjetunion
EIN SELTSAMER UMSTURZ
(Auszüge aus “Die Quadratur des Kreises” von Boris Kagarlitzki, 1992)
 

Die politischen Leidenschaften, die im Frühjahr getobt hatten, beruhigten sich zum Sommer. Jelzin und Popow suchten lange nach einem Vorwand, um die störende Legislative aus dem Weg zu räumen, die ihrer Kontrolle entglitten war, aber ihnen fiel nichts ein. Die Kommunistische Partei zerfiel still vor sich hin und geriet langsam in Vergessenheit – im ZK-Gebäude am Alten Platz war es still, kühl und leer wie in einer Grabkammer. Gorbatschows Beschwörungen der Einheit der Union hingen allen zum Halse raus. Die Abgeordneten des Stadtsowjets protestierten gegen das Erstarken der Exekutive, konnten aber nichts dagegen tun. Im Juli waren alle endgültig erschöpft, und die Politiker aller Parteien und Richtungen traten in trautem Verein ihren Urlaub an, Niemand ahnt, daß diese Atempause auf so überraschende Weise abgebrochen würde.
 
Am Morgen des 19, August wurde über Rundfunk und Fernsehen mitgeteilt, Gorbatschow sei auf seiner Datscha auf der Krim überraschend erkrankt und ein Staatskomitee für den Ausnahmezustand (GKTschP) habe die Macht im Land übernommen. Auf der Sitzung des russischen Parlaments zwei Tage später nannte ein Abgeordneter das Komitee versehentlich “Komitee für außerordentliche Ereignisse”. Dieser ”Freudsche Versprecher” erfaßte sehr treffend das Wesen der Vorgänge. Der Ausnahmezustand wurde nicht , verhängt, aber außergewöhnliche Ereignisse fanden in der Tat statt.
    
Es war ein seltsamer Umsturz. Als am Morgen die Entmachtung Gorbatschows mitgeteilt wurde, glaubten alle, es sei ernst. Wenn auch Vizepräsident Janajew, der zu Gorbatschows Nachfolger ernannt worden war, nur Spott auslösen konnte, gehörten der Junta immerhin durchaus ernstzunehmende Männer an wie Innenminister Pugo, Verteidigungsminister Jasow und KG B-Chef Krjutschkow. Aber sie verhielten sich recht merkwürdig: Nachrichten- und Verkehrswesen arbeiteten normal, das Militär wurde nicht bewaffnet, Jelzin nicht verhaftet. Die Ereignisse des 19. August wurden zwar hinterher als “kommunistischer Putsch” bezeichnet, doch die offiziellen Strukturen der KPdSU waren daran nicht beteiligt, die Erklärungen der Junta ideologisch neutral. Alle am Putsch Beteiligten waren enge Vertraute von Gorbatschow, wie Z.B. Pawlow, der Verantwortliche für die Wirtschaftsreformen im Land. Aktive Führer der Stalinisten wie Nina Andrejewa dagegen verurteilten den Umsturz.
(…)
Kondratow versuchte die Situation zu analysieren. Was ging hier eigentlich vor? Jelzin setzte alle Kräfte zur Verteidigung des riesigen Gebäudes ein und kletterte auf einen Panzer, um im Visier der feindlichen Scharfschützen und vor der Fernsehkamera höchstpersönlich Anweisungen an das Volk zu erteilen. War er denn völlig verrückt? Oder brauchte er einen großen Auftritt, um persönlichen Mut zu demonstrieren, und wußte genau, daß er weder erschossen noch verhaftet werden würde?
 
Vor dem “Weißen Haus” wurden Barrikaden errichtet, vor allem aus Gerüstrohren und Stahlarmaturen. Die Panzer der auf die Seite der russsischen Regierung übergelaufenen Truppen standen mit verstopften Kanonenmündungen innerhalb der Barrikaden. Die Kämpfer der russischen OMON- Truppen waren im Erdgeschoß des “Weißen Hauses” untergebracht. Die Straßen zum “Weißen Haus” waren mit O-Bussen, Omnibussen und LKW, Barrikaden aus Parkbänken, Armaturen und anderem blockiert. Im Namen Jelzins wurden die Moskauer zur Verteidigung des “Weißen Hauses« aufgerufen. Waffen bekamen sie aber nicht, es waren einfach keine vorhanden. Auch die Gasmasken aus dem Bestand der Zivilverteidigung reichten bei weitem nicht aus. Die Menschen, die dem Aufruf folgten, wurden auf den Straßen vor den Barrikaden und zwischen den Barrikaden und dem “Weißen Haus” postiert.
 
Insgesamt befanden sich vor dem.. Weißen Haus« je nach Wetter und Tageszeit zwischen 15000 und 60000 Zivilpersonen. Wenn ein Sturm des ..Weißen Hauses« vorgesehen gewesen wäre, hätte nach den Erfahrungen von Tbilissi, Baku und Vilnius folgendes Szenarium ablaufen können: Einsatz von Tränengas, eventuell Wasserwerfer, dann Verdrängung der Menschen mit Panzerfahrzeugen. Die Barrikaden vor dem “Weißen Haus” waren für Panzer kein Hindernis. Die meisten nicht einmal für leichte Panzerwagen. In Afghanistan waren die mit ganz anderen Hindernissen fertig geworden! Den Menschen, die sich zwischen den Straßenbarrikaden und dem “Weißen‘ Haus” befanden, wäre in diesem Fall nichts anderes übriggeblieben, als zur Residenz des Präsidenten zurückzuweichen.
 
Leicht vorzustellen, was hier passieren kann, überlegte Kondratow. Panik bricht aus, die Barrikaden sind wie Metallstacheln. Einige Menschen werden an den Rand einer betonierten Grube gedrängt (da wird ein Fußgängertunnel oder ein Kanalisationsschacht gebaut). Die hysterische Menge stürmt die eigenen Barrikaden. Viele werden zum “Weißen Haus” vordringen. Unter diesen Umständen können die unbewaffneten Panzer nur noch als Deckung oder Prellbock dienen. Aber sie können keinen Schritt fahren, nicht einmal wenden, ohne jemanden zu zerquetschen.
 
Wenn die angreifenden Panzer den inneren Ring durchbrochen haben, werden Landungstruppen den Sturm fortsetzen. Und zwar ohne abzuwarten, bis die Menschen den Platz verlassen haben. Sie werden durch die Menge hindurch den Sturm beginnen. Die Schützen im Gebäude können nicht von ihren Waffen Gebrauch machen, ohne unzählige Personen auf dem Platz zu töten. Also ist eine effektive Verteidigung nur im Innern des Gebäudes möglich. Draußen blockiert das Verteidigungssystem sich selbst. Wozu also das ganze Theater? Was ist das? Absolute, verbrecherische Unmoral? Sollen die Menschen mit ihrem Körper die Regierung schützen? Oder wissen die Regierenden genau, daß es nicht zum Sturm kommen wird? Wenn ja, woher wissen sie das? Glauben sie, die Truppen würden sich durch Agitation davon abbringen lassen, auf das Volk zu schießen, oder weiß Jelzin bereits, daß es keinen Befehl zum Sturm geben wird? Die Truppen könnten mit Leichtigkeit provoziert werden; Agenten brauchten nur ein paar Panzer in die Luft zu sprengen oder in Brand zu setzen, und zwar so, daß die Besatzungen dabei umkommen.
    
„Laut offizieller Version”, schrieb Kondratow später, „hatten professionelle Militärs das Verteidigungssystem um das “Weiße Haus” organisiert. Doch was ich in diesen drei Tagen dort gesehen habe, sah nicht aus wie ein Verteidigungssystem, sondern eher wie gigantische Dekorationen für ein wahnwitziges Schauspiel, bei dem das Volk die Rolle des heldenhaften Opfers für die Demokratie und den Präsidenten spielen sollte.«
 
Je mehr über die Vorgänge in der Stadt bekannt wurde, desto mehr Fragen und Zweifel tauchten auf. Warum handelte das “Komitee” vor allem in den ersten Stunden so sorglos und liberal? Bei jedem Staatsstreich sind doch die ersten 5-10 Stunden die entscheidenden. Im Nachhinein wurde das mit der Inkompetenz, Schlampigkeit und Unprofessionalität der “Junta” erklärt. Aber Jelzin hatte doch behauptet, der Putsch sei über ein Jahr lang vorbereitet worden. Und zur “Junta” gehörte immerhin KGB-Chef Krjutschkow – er hatte persönlich an der Vorbereitung des Staatsstreichs in Polen im Dezember 1981 mitgewirkt, der ja tadellos vorbereitet und durchgeführt wurde.
 
Jeder Schüler, der Lenins Arbeit “Marxismus und Aufstand” lesen mußte, weiß in groben Zügen Bescheid, wie man einen Staatsstreich zu organisieren hat. Um so mehr wußten das die soliden “Onkel vom KGB”, die das nicht nur theoretisch durchgenommen, sondern selbst mehr als einen Aufstand in verschiedenen Erdteilen organisiert hatten. Bei allen Mängeln dieser Behörde so viele elementare Fehler auf einmal können Profis nicht machen.
 
Unverständlich ist vor allem, warum am Morgen des 19. August nicht sofort das “Weiße Haus« besetzt und Jelzin, Ruzkoi und Silajew verhaftet wurden. Das “Komitee” hätte dafür mehrere Stunden Zeit gehabt. Wenn Jelzin gegen acht Uhr morgens vom Putsch erfahren hatte, hätte die “Junta” rund fünf Stunden zur Verfügung gehabt. Und selbst danach wäre es immer noch möglich gewesen, das “Weiße Haus” einfach zu blockieren, den Hausherrn nicht hineinzulassen und ihn von allen Hebeln der Macht zu trennen. Nachdem Jelzin sich im “Weißen Haus” etabliert hatte, wurde auch nicht versucht, ihn drinnen zu isolieren. Telefon und Strom wurden nicht abgeschaltet, jeder konnte das ”Weiße Haus” ungehindert betreten und verlassen.
 
Auch der Manegeplatz war nicht gesperrt, obwohl es solche Blockaden unter Gorbatschow bereits gegeben hatte. Niemand unternahm auch nur den Versuch, das Stadtzentrum zu blockieren, Demonstrationen aufzulösen oder wenigstens Dokumente zu kontrollieren.
 
Merkwürdig verhielt sich das Fernsehen, das unter Kontrolle der Putschisten stand. Die Zuschauer wurden ständig über Protestdemonstrationen und Jelzins Auftritte informiert. Jelzins Streikaufruf wurde in der Moskauer Metro verlesen, die auf Befehl des Komitees um 23 Uhr, mit Beginn der Sperrstunde, den Verkehr einstellte. Handelte es sich dabei um einen Akt verzweifelten Mutes der Metroangestellten oder um eine sanktionierte Aktion?
 
Das Seltsamste aber war, daß die Truppen nicht bewaffnet waren. Die Panzerfahrzeuge hatten keine Munition, selbst den Offizieren war die Munition für ihre persönliche Waffe abgenommen worden, was schon gegen die übliche Regel verstößt. Kein Wunder, daß die meisten Moskauer den Putsch von Anfang an nicht sonderlich ernst nahmen: Kinder kletterten auf die Panzer, die Leute liefen in der Stadt herum und scherten sich nicht um die Sperrstunde, ja, nicht einmal mehr um die Verkehrsregeln.
 
Auch andere Fragen drängen sich auf: Was hat Jelzin am Morgen des 19. August getan? Hat er nicht versucht, sich über die wunderbar funktionierende Regierungsleitung mit den Vertretern der Macht in Verbindung zu setzen? Wenn ja, mit wem hat er gesprochen und worüber? Warum vergingen zwischen dem Beginn des Putsches und dem Auftauchen von “Zar Boris” als Kämpfer gegen die “blutige Junta” mehrere Stunden? Auch mit Gorbatschow ist nicht alles klar. Von der Krim zurückgekehrt, berichtete der Präsident von der Blockade seiner Residenz und von Kriegsschiffen, die ihn vom Meer aus bewachten, doch sehr bald stellte sich heraus, daß er schlicht die Unwahrheit sagte. Augenzeugen berichteten, vom 19. bis 22. August in der Nähe von Gorbatschows Datschea in Foros nichts Ungewöhnliches beobachtet zu haben. Die “Nesawissimaja gaseta” bezichtigte “Gorbi” bereits, an der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Doch wenn der Präsident der UdSSR darin verwickelt war, ist dann der russische Präsident wirklich so sauber? Schließlich war Gorbatschow immerhin in Foros und von der Außenwelt abgeschnitten, Jelzin dagegen war frei.
 
Nach dem 22. August erklärten die herrschenden Kreise alle Ungereimtheiten damit, daß die Putschisten einfach versucht hätten, den Staatsstreich von 1964 zu kopieren, durch den Chrustschow gestürzt worden war. Aber die Tatsachen belegen das Gegenteil. Die Putschisten begriffen sehr wohl den Unterschied zwischen 1964 und 1991 und handelten nach einem völlig anderen Szenario. Es ist kein Zufall, daß niemand den Versuch unternahm, ein ZK-Plenum einzuberufen, Gorbatschow seines Postens als Generalsekretär zu entheben und sich auf die Parteistrukturen im Zentrum und vor Ort zu stützen. Auch die merkwürdige Selbstmordwelle, die gleich am ersten Tag nach dem Putsch mit Pugo begann, ist verdächtig. Selbstmord beging vor allem, wer viel wissen konnte.
 
Bereits in den ersten Tagen nach dem Putsch hieß es in der Zeitung “Kommersant”, es sei nicht auszuschließsen, daß Jelzin in die Verschwörung verstrickt gewesen sei. Nach Ansicht der Journalisten zeuge das von Jelzins Klugheit und Gerissenheit, denn er habe seine Gegner zu diesem Vorgehen provoziert und sie anschließend vernichtet, womit er alle Probleme zugleich gelöst und ein für allemal mit dem Kommunismus Schluß gemacht habe.
 
Jedenfalls war sich Jelzin seiner Sache sicher. Zweifellos wußte er spätestens am Morgen des 19. August, daß das “Weiße Haus” nicht gestürmt werden würde. Als im Januar 1991 in Estland die Gefahr bestand, daß Truppen das Regierungsgebäude stürmen könnten, forderte das Landesoberhaupt Edgar Savisaar die Menschen auf, sich nicht auf dem Platz vor seiner Residenz zu versammeln, und erklärte, es sei Pflicht der Regierung, die Bürger zu schützen, und nicht umgekehrt. Ebenso handelte Allende 1973. Jelzin verhielt sich genau entgegengesetzt.
 
Die Verteidigung des “Weißen Hauses” brachte allerdings einen großen psychologischen Effekt – das unbewaffnete Volk hatte die Putschisten besiegt. Schwer vorzustellen, daß Jelzin die Pläne der Putschisten nicht vorher kannte und den sinnlosen Tod unzähliger Menschen aufs Spiel gesetzt hätte. Doch woher konnte er ihre Pläne kennen? Höchstwahrscheinlich von ihnen selbst.
Antwort darauf gibt die Pressekonferenz vom Abend des 19. August. Janajew und seine Kollegen haben die volle Wahrheit gesagt, als sie erklärten, daß sie mit Jelzin zusammenarbeiten wollen, daß Gorbatschow zurückkehren würde, sobald Ordnung geschaffen sei, und daß die Wirtschaftspolitik sich nicht ändern solle. Sie hielten sich an dieses Szenarium und erwarteten das auch von den anderen.
Wenn sich die Putschisten so sicher waren, mußten sie dafür gewichtige Gründe haben. Seriöse Männer wie KGB-Chef Krjutschkow und Innenminister Pugo hätten sich nicht auf einen Staatsstreich eingelassen, ohne zu wissen, wer dahinterstand und wer neutral bleiben würde. Mit Sicherheit vermuteten sie nicht nur, sondern wußten, daß Jelzin zu Neutralität bereit war. Die Putschisten erwarteten, daß auf den Staatsstreich Verhandlungen folgen würden, in deren Ergebnis eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden sollte, und zwar mit Jelzin und seinen Vertrauten. Wahrscheinlich hätten einige Männer der “Junta” dabei gehen müssen, aber die Schlüsselfiguren Pugo, Krjutschkow und möglicherweise Pawlow wären geblieben. Auch die Initiative des kasachischen Präsidenten Nasarbajew war kein Zufall – er hatte sich sofort als Vermittler angeboten, fest davon überzeugt, daß es in allernächster Zukunft zu Verhandlungen kommen würde.
Jelzin indessen entschied sich für ein anderes Szenario. Er verurteilte den Putsch nicht nur aufs Schärfste, er begann auch zu handeln. Während die »Junta« nur einen Staatsstreich imitierte, vollzog Jelzin ihn tatsächlich, als er die Übergabe aller Machtstrukturen auf dem Territorium Rußlands an seine Regierung forderte. Dies bedeutete faktisch die unwiderrufliche Liquidierung der Sowjetunion. Zugleich wurden damit alle Versuche Gorbatschows zum Scheitern verurteilt, noch einen Unionsvertrag zu erreichen. Die verfassungsmäßig verankerte Doppelherrschaft der beidenPräsidenten hörte auf, die Alleinherrschaft Jelzins begann.