Der Belgrader Frühling 1968. Ein Versuch, den Kommunismus vom Kopf auf die Füße zu stellen. Von Boris Kanzleiter

KOMMUNISTISCHE GESCHICHTEN

Der Belgrader Frühling 1968

Ein Versuch, den Kommunismus vom Kopf auf die Füße zu stellen

Von Boris Kanzleiter

Vielleicht war es keine „Weltrevolution“ wie manche Beobachter meinen. Aber sicher war es die erste wahrhaft globale Revolte: 1968 – das vielfach beschriebene und mythologisierte Jahr der weltweiten Jugendproteste. Es sind vor allem zwei Elemente, die es noch heute – fast vierzig Jahre später – zu einem Ereignis machen, das Emotionen weckt. Einerseits die erstaunliche Synchronität der Proteste, welche in den westlichkapitalistischen, südlichpostkolonialen und östlichsozialistischen Ländern gleichzeitig an den gesellschaftlichen Verhältnissen rüttelten und die eiserne innen und außenpolitische Ordnung des Kalten Kriegs in Frage stellten. Und andererseits die offenkundige Interaktion zwischen den Akteurinnen aus den verschiedenen Erdteilen. Auch wenn das globale 1968 in der Rückschau viele Facetten und nicht weniger Widersprüche zeigt, standen im Hintergrund der Bewegungen zwischen Warschau, Paris, Berkeley und MexikoStadt doch einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten. Es ging um ein Gefühl, dem vielleicht mit den drei Begriffen „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Selbstbestimmung“ nahe zu kommen ist. Vielleicht kann man es auch so ausdrücken: Es ging um die Erneuerung des Kommunismus und seiner emanzipatorischen Potenziale. So war es jedenfalls in Jugoslawien.

Belgrad: 2. Juni 1968

Das jugoslawische 1968 begann am Abend des 2. Juni des Jahres in Novi Beograd, einem riesigen Neubauviertel der Hauptstadt, dessen Wohnblocks und Bürogebäude nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem sumpfigen Boden gestampft worden waren. Es gab nicht genügend Eintrittskarten für ein Konzert, das für diesen warmen Sommerabend angekündigt war. Privilegierten Zutritt hatten allerdings die Mitglieder einer großen Baubrigade des offiziellen Jugendverbandes. Am Einlass kam es zu Reibereien zwischen Studenten aus den nahe liegenden Wohnheimen und dem Ordnerdienst. Eine Hand voll Polizisten griff ein, um die Schlägerei zu beenden. Doch sie erreichten genau das Gegenteil. Als am nächsten Morgen die Bilanz der nächtlichen schweren Straßenschlachten gezogen wurde, war die Öffentlichkeit erschüttert. Viele hundert Studenten hatten sich stundenlange Schlägereien mit Milizeinheiten geliefert, die aus der ganzen Stadt zur Verstärkung zusammengezogen werden mussten. Die Ordnungsmacht hatte Schusswaffen eingesetzt. Dutzende schwer verletzte Jugendliche lagen in den Krankenhäusern. Und das Unglaublichste: Die revoltierenden Studenten hatten nach Mitternacht einen Wasserwerfer der Miliz gekidnappt und waren mit ihm triumphierend durch die Wohnheimanlage gefahren. Dann hatten sie ihn unbemannt mit laufendem Motor gegen den Kordon der Milizeinheiten fahren lassen. Eine außerordentliche Provokation.

Manche Beobachter der Szenerie hatten den Eindruck, die Belgrader Studenten eiferten dem Vorbild der Pariser Studenten nach, die drei Wochen zuvor mit der viel beschriebenen „Nacht der Barrikaden“ im Quartier Latin ein politisches Erdbeben ausgelöst hatten, welches in den größten Generalstreik der europäischen Geschichte mündete. Und tatsächlich war auch der Belgrader 2. Juni nur der Auftakt zu etwas Größerem. Am kommenden Tag organisierten die Studenten eine Demonstration gegen die Gewalt der Miliz. Wieder eskalierte der Protest in schwere Straßenschlachten; wieder setzte die Miliz Schusswaffen ein. Und ein weiteres Mal spornte die Repression nur die Aktion der Studenten an.

Am Nachmittag des 3. Juni 1968 besetzten Tausende Jugendliche die Fakultäten der Belgrader Universität im Zentrum der Hauptstadt. Dem Vorbild der Frankfurter StudentenAktivistinnen folgend tauften sie die traditionsreiche Lehranstalt in „Rote Universität Karl Marx“ um. Rote Fahnen wehten aus den verbarrikadierten Gebäuden. Und wie die Universität in Nanterre zum Ausgangspunkt der Ausbreitung des Protestes in ganz Frankreich wurde, folgten auch in Jugoslawien die Jugendlichen überall dem Belgrader Beispiel. Am 4. Juni brach der Protest auch in den drei anderen großen Universitätsstädten Zagreb, Ljubljana und Sarajevo aus. Provinzstädte zogen nach. Die größte unkontrollierte Protestbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg erschütterte das politische System. Dem Establishment des Bund der Kommunisten Jugoslawiens(BdKJ) fuhr der Schrecken in die Glieder. Trotz der Roten Fahnen, welche die Studenten trugen und der antifaschistischen Partisanenlieder, die sie sangen. Oder vielleicht gerade deshalb.

Die Aufhebung aller Privilegien

Was wollten die Jugendlichen? In Fakultätsversammlungen, Resolutionen, Reden und Flugblättern stellten sie ihre Forderungen auf. Im Vordergrund stand zunächst das Verlangen nach einer Bestrafung der verantwortlichen Kommandanten der Milizeinheiten, die auf sie geschossen hatten. Auch der Innenminister sollte zurücktreten. Aber die als unbarmherzig wahrgenommene Gewalt der Staatsorgane war nur der Kristallisationspunkt für andere, weiter reichende Forderungen. In einem Aufruf forderten sie „Versammlungs und Demonstrationsfreiheit“, die „Demokratisierung aller Informationsmedien“ und die „Demokratisierung aller gesellschaftlichpolitischen Organisationen und besonders des Bundes der Kommunisten“.

Doch damit nicht genug. Der Protest hatte eine ausgeprägte soziale Dimension. „Wir fordern die Aufhebung aller Privilegien, welche in unserer Gesellschaft bestehen“, hieß es. Ein „energisches Vorgehen gegen Bereicherung auf nichtsozialistische Art und Weise“ wurde verlangt. Redner forderten ein Ende der „kapitalistischen Restauration“, welche sie in einem wirtschaftlichen Reformprogramm des BdKJ erkannten, das seit Mitte der 1960er Jahre auf eine Stärkung von Marktelementen und die Einbindung der Wirtschaft in den Weltmarkt abzielte. „Auf besondere Kritik stieß das Gastarbeiterprogramm der Regierung, Welches mit der Bundesrepublik Deutschland geschlossen worden war. Die Abwanderung junger Arbeitskräfte ins Ausland sollte gestoppt werden. Ein junger Arbeiter berichtete in einer Streikversammlung der Studenten, er sei das ganze Frühjahr in Deutschland gewesen, um dort zu arbeiten. Aber die „Gastarbeiter“ seien unglücklich und wollten so bald wie möglich nach Hause zurückkehren. „Aber wir exportieren Menschen wie Fleisch.“

Der Ausbruch der Revolte am 2. Juni erfolgte spontan. Aber er war nicht überraschend. Bereits seit Monaten hatte sich die Unruhe unter den Studenten bemerkbar gemacht. Auf Versammlungen des offiziellen Studentenbundes war lautstark Kritik an den mangelnden materiellen Bedingungen in den Wohnheimen und Fakultäten laut geworden. Die Macht der Professoren und der Universitätsleitung war ebenso kritisiert worden wie die Entmündigung der Studenten. In Protestaktionen solidarisierten sich Gruppen von Studenten bereits seit Dezember 1966 mit den internationalen Jugendprotesten und verknüpften sie mit ihren eigenen Forderungen. Zuerst standen die Proteste gegen den Vietnamkrieg im Vordergrund. Als im März 1968 in Polen dann Studenten und kritische Professoren von der Universität verbannt und mit harscher Repression überzogen wurden, schickten Studenten aus Belgrad, Ljubjana und Sarajevo Solidaritätsadressen. Als im April 1968 auf Rudi Dutschke ein Attentat verübt wurde, demonstrierten Belgrader Studenten vor der Deutschen Botschaft. Vor allem der Generalstreik des Mai 1968 in Frankreich elektrisierte die Beobachter in Jugoslawien.

Die protestierenden Studenten in Jugoslawien fühlten sich als Teil einer globalen Generation. Aber der politische Kontext, in dem sie agierten, war einmalig. Denn während die Jugendlichen in Deutschland, Frankreich, Mexiko oder Polen sich in einer frontalen Konfrontation mit der Staatsmacht und der politischen Ordnung befanden, konnten sich die jugoslawischen Studenten trotz der schmerzhaften MilizKnüppel auf die Grundwerte der Verfassung und des Programms des regierenden BdKJ beziehen. Ihre Kritik und ihr Protest galten in erster Linie dem Widerspruch zwischen den Versprechungen der Staatsführung und der in ihren Augen enttäuschenden sozialen und politischen Wirklichkeit. Diese Position wurde zugespitzt zusammengefasst in einer Erklärung, welche die streikenden Studenten an der Philosophischen Fakultät in Belgrad am 4. Juni 1968 verabschiedeten: „Wir haben keinerlei eigenes Programm. Unser Programm ist das Programm der progressivsten Kräfte unserer Gesellschaft — das Programm des BdKJ und der Verfassung. Wir fordern ihre konsequente Umsetzung.“

Das Programm des BdKJ von 1958 und die jugoslawische Verfassung von 1963 zählten zu den interessantesten undprogressivsten Dokumenten, die jemals von einer kommunistischen Partei an der Staatsmacht beschlossen wurden. In ihnen wurde eine harte Kritik an allen Formen der „Bürokratie“ formuliert, welche eine sozialistische Entwicklung verhindere. Die Wurzeln der „Deformation“ wurden in der Verstaatlichung der Produktionsmittel gesehen. Als ideologisches Gegenmodell konzipierten die jugoslawischen Parteitheoretiker das Modell der „Arbeiterselbstverwaltung`. Um eine auswuchernde Bürokratisierung der Gesellschaft zu verhindern, sollten die Unternehmen in „gesellschaftlichem Eigentum“ unter Verwaltung von demokratisch gewählten „Arbeiterräten“ stehen. Damit sollte das in der marxistischleninistischen Theorie beim Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus prognostizierte „Absterben des Staates“ und seiner bürokratischen Apparate unmittelbar ermöglicht werden. Nur so könnte — wie das Programm des BdKJ formulierte — die im Kommunistischen Manifest geforderte „freie Assoziation der unmittelbaren Produzenten“ ermöglicht werden. Parteitheoretiker Edvard Kardelj erklärte schon 1949 paradigmatisch: „Es sollte niemals vergessen werden, dass nicht einmal ein perfekter bürokratischer Apparat, selbst wenn er von einer begeisterten Führung geleitet wird, den Sozialismus entwickeln kann. Sozialismus kann nur entwickelt werden mit der Initiative der Millionen, mit dem Proletariat in einer führenden Rolle. Deshalb kann die Entwicklung des Sozialismus nicht voranschreiten ohne durch die konstante Stärkung der sozialistischen Demokratie im Sinne der wachsenden Selbstverwaltung der Volksmassen.“

Selbstverwaltung in Wort & Tat

Die ideologische Konzeption des BdKJ war eine direkte Folge des Bruchs mit der Sowjetunion 1948. Die jugoslawischen Kommunistinnen bestanden nach dem weitgehend aus eigener Kraft erzielten opferreichen Sieg der von ihr geführten Partisanenbewegung gegen die Deutsche Wehrmacht und ihre Verbündeten auf Eigenständigkeit. In der Politik der Kommunistischen Internationale erkannten sie ein Instrument, das lediglich den außenpolitischen Interessen Moskaus folgte und keine Gleichberechtigung ihrer Mitglieder zuließ. Aber die auf einen Rätekommunismus abzielende Programmatik des BdKJ stand auch in Jugoslawien im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität. Tatsächlich blieben die Betriebe im „gesellschaftlichen Eigentum“ faktisch unter der Kontrolle lokaler Parteifunktionäre und von ihnen bestimmten Direktoren. Die Bürokratie reproduzierte sich nun auf lokaler Ebene, denn eine tatsächliche Demokratisierung fand trotz aller ideologischen Bekenntnisse nicht statt. Die Ideologie der „Arbeiterselbstverwaltung‘ geriet so schnell zu einer Farce.

Auch auf anderen Ebenen entwickelten sich Probleme. Ein hohes Wirtschaftswachstum ermöglichte in den 1950er und 1960er Jahren zwar einen schnellen Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung des durch den Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen verwüsteten Landes. Aber während die wachsende Bevölkerung in den Städten ihren Lebenstandart verbessern konnte, versagte die Entwicklungsstrategie dabei, die Disparitäten zwischen den traditionell armen Regionen im Süden und den relativ prosperierenden Regionen im Norden zu schließen. Im Gegenteil wuchsen die ohnehin tiefen Widersprüche gerade aufgrund des schnellen Tempos der Industrialisierung relativ betrachtet weiter an. Auch die sozialen Ungleichheiten in den einzelnen Republiken wuchsen. Insbesondere nach der Einführung eines ökonomischen Reformprogramms 1964/65 zeigten sich diese Probleme immer offener. Die Einführung von Marktmechanismen setzte die unter „Arbeiterselbstverwaltung“ stehenden Betriebe in verstärkte Konkurrenz zueinander. So sollten die Stagnationserscheinungen überwunden werden, die sich seit Beginn der 1960er Jahre immer stärker abzeichneten. Tatsächlich führte die Reformpolitik aber vor allem zu offen auftretenden sozialen Problemen wie einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Schon ab 1958 setzte eine Welle von Arbeiterstreiks ein, die sich vor allem im Gefolge der Wirtschaftsreformen ausweitete.

Gleichzeitig allerdings hatte der jugoslawische Kurs politische Spielräume geschaffen, wie sie in keinem anderen sozialistischen Land existierten. Die wirtschaftliche Reformpolitik war auch von einer politischen Liberalisierung begleitet, die Intellektuellen und Künstlern neue Handlungsräume und Ausdrucksmöglichkeiten bot. Obwohl der BdKJ niemals die Aufgabe seiner politischen Monopolstellung erwog, genossen die Bürgerinnen und Bürger Jugoslawiens am Ende der 1960er und zum Beginn der 1970er Jahre ein hohes Maß an politischen und kulturellen Freiheiten. In Film, Literatur, Musik und Kunst wurde mit neuen Themen und Ausdrucksformen experimentiert und Trends aus dem Westen aufgenommen. Das Musical „Hair“ wurde 1968 nur wenige Monate nach seiner Uraufführung in New York auch an einem Theater in Belgrad gespielt. In der Philosophie entstanden Strömungen, welche die dogmatischen Grundpositionen des ParteiMarxismus verließen und neue Tendenzen wie den Existentialismus und die Frankfurter Schule rezipierten. In der einem „humanistischen Marxismus“ verpflichteten Zeitschrift Praxis, welche ab 1964 von Universitätsprofessoren in Belgrad und Zagreb herausgegeben wurde, fanden diese Diskussionen eine Plattform. Zahlreiche Werke westlicher Gesellschaftskritiker und Schriftsteller wurden ins Serbokroatische übersetzt. Vor allem Herbert Marcuse und sein 1968 übersetztes Hauptwerk „Der eindimensionale Mensch“ erfreute sich großer Beliebtheit. Mit der seit 1964 jährlich abgehaltenen Sommerschule auf der Adriainsel Korcula bestand ein einmaliges Forum, in dem sich kritische Intellektuelle aus West und Ost begegneten. Das Spektrum der Teilnehmer reichte von Zygmunt Baumann aus Warschau, über Herbert Marcuse bis zu Ernest Mandel.

Gleichzeitig wurden auch westliche Konsumprodukte auf den jugoslawischen Markt eingeführt. Die jugoslawischen Bürgerinnen und Bürger hatten Zugang zu westlichen und östlichen Medien undkonnten mit ihrem Reisepass relativ unbehindert ins Ausland fahren. Jugoslawien war also ein relativ offenes Land, welches in gewisser Weise im Schnittpunkt des Ostens, Westen und Süden stand. Titos Rolle als international allseits anerkannter Staatsmann unterstrich diese Position. Für Stabilität sorgte vor allem die ambivalente Rolle Jugoslawiens in der Bipolarität des Kalten Krieges. Moskau wollte verhindern, dass Jugoslawien zu enge Kontakte mit dem Westen knüpfte. Die USA andererseits wollten verhindern, dass sich die Sowjetunion das Land in seinen Hegemonialbereich einverleibte. Beide Supermächte tolerierten daher den jugoslawischen Dritten Weg.

Protest zwischen Ost und West

Es ist dieser widersprüchliche politische Kontext, in dem die Entstehung der jugoslawischen Studentenbewegung betrachtet werden muss. In der Programmatik der Bewegung, welche von den Streikenden in einem „Politischen Aktionsprogramm“ zusammengefasst wurde, verkörpert sich die Besonderheit des jugoslawischen „1968“ im internationalen Kontext. Wie in Prag und noch viel mehr in Warschau richtete sich der Protest der jugoslawischen Studenten gegen die Herrschaftsformen einer bürokratischen Elite. Viel klarer als die Studenten in Polen oder der Tschechoslowakei allerdings formulierten die jugoslawischen Studenten Kritik an marktwirtschaftlichen Reformprogrammen, mit denen Teile der Parteibürokratie die Modernisierungskrise lösen wollten.

Viel eher orientierten sich die jugoslawischen Studenten an den Ideen der Neuen Linken die sich seit Ende der 1950er Jahre jenseits von Sozialdemokratie und Parteikommunismus Moskauer Prägung in den westlichen Ländern gebildet hatte. Die Theorieproduktion der Neuen Linken konnte in Jugoslawien relativ unbehindert rezipiert werden. Aber im Gegensatz zu den Aktivistinnen des Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der französischen Aunesses Communistes Revolutionnaires (JCR) oder den Sympathisantinnen der New Left Review aus London konnten sie die Kritik an der „Entfremdung“ in den westlichindustriellen Gesellschaften auch auf die Realität in einem sozialistischen Regime übertragen.

Und nicht zuletzt bezogen sich die jugoslawischen Studenten auf die „Befreiungsbewegungen“ der „Dritten Welt“. Denn die jugoslawischen Studenten betrachteten ihr Land eben nicht als Teil der „imperialistischen“ Welt, sondern viel eher als Bestandteil genau dieser postkolonialen Länder. Die Rolle Jugoslawiens als führende Kraft in der 1961 gegründeten Bewegung der Blockfreien Länder, welche eine Reihe wichtiger postkolonialer Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika vereinte, verstärkte dieses Gefühl. Die hauptsächlich gegen die USA gerichteten „antiimperialistischen“ Protestbewegungen in der „Dritten Welt“ wurden viel eher als „eigene“ Kämpfe betrachtet denn als Kämpfe der „anderen“. Mit Berechtigung kann das jugoslawische „1968“ daher als eine einzigartige Bewegung betrachtet werden. Es war nicht nur eine Bewegung zwischen Ost und West. Es war auch ein Protest zwischen Nord und Süd. Zeichneten sich die Proteste des globalen „1968“ überall durch eine überraschende Konvergenz aus, bildete die Programmatik der jugoslawischen Studenten Elemente einer Synthese. Im Juni 1968 deutete sich in Jugoslawien an, wie der Kommunismus vom Kopf auf die Füße gestellt werden könnte. Das jedenfalls war das Grundgefühl der Streikenden an der „Roten Universität“.

Vorweggenommene Tragödien

Begann der Juni 1968 als Drama mit offenem Ausgang endete er als Tragödie. Fast 40 Jahre später erscheint der Studentenprotest am Ende der 1960er Jahre zugleich als hoffnungsvoller Höhepunkt wie als fataler Wendepunkt des kommunistischen Experimentes in Jugoslawien. 1968 zeigte, dass sich kommunistische Ideen über die Kriegsgeneration hinaus unter der Jugend verbreitet hatten. Der Impuls für eine Demokratisierung des Systems hätte Wege zur Überwindung seiner strukturellen Probleme eröffnen können. Stattdessen geschah genau das Gegenteil. Eine Repressionswelle, welche nach dem Streik der Studenten einsetzte, betraf nicht nur die protestierenden Jugendlichen sondern auch alle anderen kritischen politischen Kräfte. Darunter befanden sich die Intellektuellen im Umkreis der PraxisGruppe genauso wie kritische Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Nicht zuletzt verhinderte die Repression das Entstehen einer unabhängigen Arbeiterbewegung, für die es in den Streikwellen seit Ende der 1950er Jahre Erfolg versprechende Ansatzpunkte gab. Der Parteiapparat unter der Führung des auf Lebenszeit zum Präsidenten ernannten Josip Broz Tito setzte auf eine Förderalisierungspolitik, die ihre Legitimation zunehmend in der nationalen Frage suchte.

Statt den Kommunismus vom Kopf auf die Füße zu stellen, stoppte der Parteiapparat damit die Demokratisierung und schaufelte selbst die Grube, in welche das ausgehöhlte System später fallen sollte. Die jugoslawischen Kommunisten hatten nicht nur die Fundamente für die Existenz des Staates und seine potentielle emanzipatorische Uberwindung.gelegt, sondern auch die Grundlagen für seinen Zerfall. Unter den Bedingungen des Wegfalls der Blockkonkurrenz verselbsständigten sich die Eigeninteressen der politischen‘ Eliten in dem wirtschaftlich fragmentierten Land und führten es in einen selbstmörderischen Krieg. Und es gab niemanden mehr, der es retten konnte. Die kommunistische Idee existierte 1989 in Jugoslawien noch nicht einmal mehr als Utopie.

Boris Kanzleiter lebt und arbeitet als Journalist und Historiker in Belgrad.

FANTÖMAS NR. 10 • 2006 • 31