Jean Ziegler: »Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen« (A.Wosni)

»Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen«
Der deutsche Faschismus brauchte sechs Jahre, um 56 Millionen Menschen
umzubringen. Der Neoliberalismus schafft das locker in gut einem Jahr.
Ein Gespräch mit Jean Ziegler
Interview: Peter Wolter

Foto: dpa
Der Schweizer Jean Ziegler war der erste UN-Sonderberichterstatter für
das Recht auf Nahrung und ist heute Vizepräsident des beratenden
Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates.

Wir lassen sie verhungern« heißt Ihr neues Buch – Untertitel:
»Massenvernichtung in der Dritten Welt.« Wer ist verantwortlich dafür,
daß Millionen Menschen jedes Jahr verhungern?

Der »World Food Report« der UN sagt: Alle fünf Sekunden verhungert ein
Kind unter zehn Jahren, 57000 Menschen jeden Tag. Von den sieben
Milliarden Menschen, die es heute auf der Welt gibt, ist ein Siebtel
permanent schwerstens unterernährt. Zugleich stellt der Report aber
fest, daß die Weltlandwirtschaft nach dem heutigen Stand der
Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren kann.
Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten gibt es heute keinen objektiven
Mangel mehr – das Problem ist nicht die Produktion, sondern der Zugang
zur Nahrung. Und der hängt von der Kaufkraft ab – jedes Kind wird
ermordet, das während unseres Gesprächs verhungert.

Wer also sind die Herren dieser kannibalischen Weltordnung? Da möchte
ich zunächst die zehn größten multinationalen Konzerne nennen, die 85
Prozent der weltweit gehandelten Lebensmittel kontrollieren – sie
entscheiden jeden Tag, wer ißt und lebt, wer hungert und stirbt. Ihre
Strategie ist die Profitmaximierung.
Können Sie Namen nennen?

Die US-Firma Cargill Incorporated hat vergangenes Jahr 31,8 Prozent des
weltweit gehandelten Getreides kontrolliert, die Dreyfus Brothers 31,2
Prozent des Reises. Ich will kurz die vier wichtigsten Mechanismen
identifizieren, die den Hunger verursachen.

Zunächst wäre da die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln. Der
internationale Banken-Banditismus hatte 2007/2008 an den Finanzbörsen
rund 85000 Milliarden Dollar Vermögenswerte vernichtet. Seitdem sind die
meisten Hedgefonds und Großbanken auf die Rohstoffbörsen umgestiegen,
vor allem auf Agrarprodukte. Wie gehabt wird auch auf diesem Sektor
weiter mit Derivaten, »Short Selling« und anderen legalen
Finanzinstrumenten gehandelt, um mit Reis, Mais und anderem Getreide
astronomische Profite einzufahren. Mais z. B. ist auf dem Weltmarkt in
den vergangenen zwölf Monaten um 63 Prozent teurer geworden, die Tonne
Weizen hat sich auf 272 Euro verdoppelt, der Preis für philippinischen
Reis ist regelrecht explodiert: von 110 auf 1 200 Dollar.
Das können in der Dritten Welt aber nur wenige bezahlen …

Laut Weltbank müssen 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem
Dollar pro Tag leben – sie hausen in den Slums der Welt: in Manila,
Karatschi, Mexiko-Stadt, Sao Paulo usw. Von dieser winzigen Summe müssen
Mütter ihre Kinder ernähren – wenn die Lebensmittelpreise explodieren,
verhungern sie.

Ein zweiter mörderischer Mechanismus ist der zunehmende Einsatz von
Agrar-Treibstoffen. Alleine in den USA wurden 2011 aus 138 Millionen
Tonnen Mais und Hunderten Millionen Tonnen Getreide Biomethanol und
Biodiesel hergestellt. Das Land verbraucht jeden Tag das Äquivalent von
20 Millionen Barrel (158 Liter) Erdöl – zwischen Alaska und Texas werden
aber nur acht gefördert. Zwölf müssen eingeführt werden, aus Irak,
Nigeria, Zentralasien, Saudi-Arabien und anderen gefährlichen Ländern.

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– Sa./So., 17. / 18. November 2012, Nr. 268