„der Funke“, 26.8.2014: Kiew, IWF-EU und die Süd-Ost-Ukraine

Von Anfang an implementierte die neue Regierung in Kiew eine Reihe von Maßnahmen, die von der russisch sprechenden Bevölkerung im Süden und Osten des Landes nur als Provokation aufgefasst werden konnte. Das Parlament, die Rada, stimmte für die Abschaffung eines Gesetzes aus der Janukowitsch-Ära, das Minderheitensprachen auf regionaler Ebene offiziellen Status gewährte (obgleich diese Gesetzesänderung aufgrund der großen Empörung darüber letztlich nicht von Turtschinow unterzeichnet wurde). Kiew betraute verhasste Oligarchen in den Regionen Donezk, Charkow, Dnipropetrowsk etc. mit den Regierungsgeschäften. ArbeiterInnen in den Industrieregionen im Süden und Osten verstanden, dass jegliches Abkommen mit dem IWF und der EU und das Aufbrechen der Verbindungen mit Russland zu ihrem Nachteil wären.

Aus diesen Gründen bildete sich im Osten und Süden der Ukraine eine Anti-Maidan Bewegung für nationale, demokratische und soziale Rechte heraus. Ohne Zweifel spielten Elemente aus der Partei der Regionen des Ex-Präsidenten und möglicherweise auch russische Agenten, die eigene Interessen verfolgten, eine Rolle in der Entfachung dieser Bewegung. Allerdings war die Bewegung in erster Linie sozialen Ursprungs und spiegelte die weitverbreitete Ablehnung der „stellvertretenden Regierung“ in Kiew seitens der Arbeiterklasse wider. Die ArbeiterInnen sehen diese richtigerweise als Regierung der Oligarchen, die die nationalen, demokratischen und sozialen Rechte mit Füßen tritt.

Über Wochen gab es Anti-Regierungsdemonstrationen in Charkow, Odessa, Luhansk, Donezk etc. Diese Bewegung umfasste unterschiedliche Elemente. Es gab das Element des russischen Nationalismus, was sich daran zeigte, dass bei den Protesten russische Flaggen mitgetragen wurden. Doch auch das sollte differenziert gesehen werden und ist nicht nur Ausdruck eines blinden Nationalismus. Eine Umfrage zeigte, dass das, was die Leute in diesen Regionen positiv mit Russland verbinden, vor allem die höheren Löhne der IndustriearbeiterInnen sind.

Es gab auch das Element einer gewissen Sowjet-Nostalgie, das Rückbesinnen auf eine Zeit, als es Vollbeschäftigung, Bildung und Krankenversicherung für alle gab, und als nicht Millionen sich gezwungen sahen, auf der Suche nach einem Lebensunterhalt das Land zu verlassen. Darin suchen viele eine Alternative zur epidemischen Drogenabhängigkeit, zu Alkoholmissbrauch und Perspektivlosigkeit.

Auch der Antifaschismus spielte eine wichtige Rolle. Millionen UkrainerInnen hatten im Zweiten Weltkrieg als Teil der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Daher fühlen sich viele vom rechten, reaktionären ukrainischen Nationalismus zu Recht abgestoßen. Die extreme Rechte in der Ukraine sieht sich als Erbin der Nazi-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg rund um den Antikommunisten Stephan Bandera, die SS Galizien Division etc.

Auch in diesem Zusammenhang spielt die nationale Frage eine wichtige Rolle. Politische Säuberungen, Zwangskollektivierung, Massendeportationen etc. während des Stalinismus führten dazu, dass sich ein Teil des ukrainischen Nationalismus insbesondere im Westen des Landes mit fanatischem Antikommunismus und reaktionärem Ideengut vermischte.

Schließlich gab es auch reaktionäre, prorussische, ja sogar zaristische Elemente in der Anti-Maidan Bewegung. An jenen Orten, wo linke Organisationen stärker präsent waren, gelang es die reaktionären Elemente zurückzudrängen. Dort dominierten letztlich linke Ideen und Symbole die Bewegung (etwa in Odessa und Charkow).

Vor allem hatte die Bewegung aber tiefgreifende soziale und ökonomische Ursachen und kann nicht als das Werk russischer Agenten, Agitatoren und bezahlter Söldner erklärt werden. Nach einer gewissen Zeit, als die Bewegung keine klaren Perspektiven entwickeln konnte, suchte ein Teil nach etwas, das wie eine Abkürzung aussah: Die bewaffnete Besetzung öffentlicher Gebäude, die Ausrufung unabhängiger Republiken und der Ruf nach einer russischen Intervention. Bis zu einem gewissen Grad hat man sich diese Methoden von Euromaidan abgeschaut, die in diesem Fall zu funktionieren schienen. Und auch auf der Krim schien dieser Weg zum Erfolg zu führen.

Allerdings war die Krim für Putin von großer strategischer Bedeutung, während Donezk und Luhansk das nicht sind. Die Besatzung und Annexion dieser Regionen würden auf Widerstand seitens der ukrainischen Armee stoßen, Russland würde dadurch international in eine schwierige Position kommen und seine Handelsbeziehungen zur EU würden darunter schwer leiden. Putin stellte sich die Frage, wozu das alles? Eine Annexion dieser Industrieregionen durch Russland hätte den Kreml dazu gezwungen, die Kosten für die aus kapitalistischer Sicht notwendigen „Restrukturierungen“ der dort ansässigen Industrien zu übernehmen.

Das Ziel der russischen Oligarchie in der Ukraine war nie die Annexion dieser zwei Regionen, sondern vielmehr ging es darum die eigene Macht (die sich hauptsächlich aus der Energieversorgung ergibt) zu nutzen, um die Regierung in Kiew dazu zu zwingen, zu einer Verständigung sowohl mit Russland als auch mit der EU zu gelangen (anstatt eines einseitigen Anschlusses an die NATO). Hätte es jedoch ein Massaker an ZivilistInnen im Donbas gegeben, wäre Putin möglicherweise dazu gezwungen gewesen, trotz der befürchteten Konsequenzen zu intervenieren. Er wählte den Weg der Erpressung mit Energieversorgung und eine Zurschaustellung der militärischen Macht an der Grenze zur Ukraine, um das zu bekommen, was er eigentlich will.
An diesem Punkt überschneiden sich die Interessen des Kreml mit denen des deutschen Kapitalismus. Deutsche Firmen haben wichtige Investitionen und Interessen in Russland, und vor allem ist Deutschland vom Gas aus Russland abhängig, das durch die Ukraine geführt wird. Wirtschaftssanktionen gegen Russland würden dem deutschen Kapitalismus schaden. An diesem Punkt gehen die Interessen von Washington und Berlin auseinander. Das Weiße Haus weiß, dass der Handel zwischen den USA und Russland unbedeutend ist und setzt in diesem Konflikt auf Provokationen gegen den Kreml.

Die Wahl Poroschenkos, eines gewitzten Oligarchen, der alle Regierungen seit der Restauration des Kapitalismus in der Ukraine unterstützt hat und bei jedem Machtwechsel auf der Siegerseite stand, spiegelte sowohl das Interesse Moskaus als auch Berlins nach einer für beide Seiten akzeptablen Einigung wider.

Die Ausrufung der Republiken von Donezk und Luhanks ging wohl mit der Illusion einher, dass Russland diese rasch anerkennen würde. Die ursprüngliche Unabhängigkeitserklärung der Volksrepublik Donezk beinhaltete eine Reihe sehr progressiver Aussagen, wie die Vorrangstellung von kollektivem Eigentum gegenüber Privateigentum; die Ablehnung der Ausbeutung von Menschen durch Menschen und das Ziel einer multinationalen, multiethnischen Republik. Doch der Klassencharakter der Bewegung in der Ostukraine blieb generell unklar. Symbole der Sowjetunion waren genauso zu sehen wie Bilder von Lenin (und Stalin!), es wurde Bezug auf die Sowjetrepublik des Südostens von 1918 genommen, anti-faschistische Slogans waren in der Bewegung dominant vertreten, aber gleichzeitig waren auch nationalistische und religiöse Symbole sehr stark präsent. Es war eine Bewegung, deren Kern von progressiven, linken und gegen die Oligarchie gerichteten Elemente gebildet wurde, gleichzeitig herrschte in der Bewegung eine große ideologische Konfusion vor. Wie könnte es nach 25 Jahren ideologischer Gegenoffensive im Zuge der Restauration des Kapitalismus auch anders sein.

Kiew antwortete auf die bewaffnete Besetzung der Verwaltungsgebäude und das massenhafte Überlaufen von Kräften der Polizei auf die Seite der Aufständischen mit einer „Anti-Terror-
Operation“ (ATO). Allerdings scheiterten drei aufeinanderfolgende Wellen der ATO, weil sich ukrainische Truppeneinheiten weigerten, auf unbewaffnete ZivilistInnen zu schießen, die sich in Kramatorsk, Slawiansk etc. den Soldaten entgegenstellten und sich mit diesen verbrüdern wollten. Dies zeigt, dass die Bewegung im Donbas nicht das Ergebnis des Wirkens „russischer Agenten und separatistischer Söldner“ war, sondern auf die aktive oder passive Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung in diesen Regionen zählen konnte (was sich auch in den darauf folgenden Referenden bestätigte).

Nicht nur verbündeten sich Truppenteile mit der Bewegung, es gab auch Proteste von Verwandten von Wehrpflichtigen bzw. Reservesoldaten, die in einigen Fällen die Truppen physisch davon abhielten, an die Front zu gehen. Diese Soldaten, die von der Regierung in Kiew eingesetzt wurden, waren in den meisten Fällen nicht anständig ausgerüstet, hatten nicht genug zu essen oder bekamen keine ordentliche Bezahlung.

Kiew reagierte auf diese Proteste mit der Wiedereinführung der Nationalgarde und diverser Bataillons des Innenministeriums, die sich aus „patriotischen Freiwilligen“, meist Mitglieder von faschistischen und neonazistischen Organisationen, rekrutierten (Patrioten der Ukraine, Bruderschaft, Swoboda, Maidan Selbstverteidigung, Rechter Sektor). Die Eingliederung dieser paramilitärischen Schlägertrupps in die ATO diente zwei Zwecken: Die Regierung hatte nun fanatische Truppen zur Verfügung, die bereit waren, legale und illegale Aktionen gegen die „russischen TerroristInnen“ auszuführen, und es lenkte die extreme Rechte vom Widerstand gegen die Regierung ab (vergessen wir nicht, dass die Polizei einen Anführer des Rechten Sektors umgebracht hatte, worauf die Nazis mit gewaltsamen Gegenaktionen drohten).

Indem sie einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führte, rückte die Regierung noch weiter nach rechts. Wer sich ihr entgegenstellte, wurde zu einem „russischen Agenten“ oder einem „pro-russischen Separatisten“ gestempelt. Wir sahen nicht nur faschistische Übergriffe gegen linke Organisationen und das Schließen der Räumlichkeiten der Kommunistischen Partei in Kiew und andern Städten, sondern auch Maßnahmen zum Verbot der Partei, Razzien in den Büroräumlichkeiten von Borotba in mehreren Städten, wodurch diese Organisation schließlich in den Untergrund gezwungen wurde, eine Welle von Verhaftungen, ein hartes Durchgreifen gegen soziale Medien und allgemeine Angriffe auf demokratische Rechte.

Es wäre falsch, die Regierung in Kiew als „faschistische Junta“ zu bezeichnen. Es ist in erster Linie eine Regierung der Oligarchen, die brutale Sparmaßnahmen durchführt. Es sind dieselben Leute, die schon vor der Euromaidan-Bewegung an der Macht waren. Dennoch hat sich die herrschende Klasse stark nach rechts bewegt. Es ist nicht nur so, dass sie rechtsextreme Elemente als Stoßtruppen benutzt. Sprüche, die zuvor nur von Rechtsextremen zu hören waren, gehören nun in der Presse und den Medien zum allgemeinen Sprachgebrauch bzw. werden auch von Politikern wie Poroschenko verwendet. Aufmärsche am 1. Mai oder Gewerkschaftskonferenzen wurden von rechten Elementen in Zusammenarbeit mit Teilen des Staatsapparats angegriffen. Namhafte Oligarchen wie Timoschenko bedankten sich öffentlich bei den Tätern des Massakers von Odessa. Gleichzeitig ignorieren die Medien die Tatsache, dass der Rechte Sektor zugegeben hat, damals das Gewerkschaftshaus in Odessa in Brand gesetzt zu haben.

Die ATO, die in fast allen größeren Schlachten (vielleicht mit der Ausnahme von Mariupol) erfolglos blieb, setzt nun vermehrt auf Bombardements aus der Luft und andere rücksichtlose Kriegsmethoden. Dies hat nur dazu gedient, die Opposition gegen die Regierung zu verhärten und den bewaffneten Widerstand zu stärken. Hinzuzufügen ist die große Wirkung des Massakers von Odessa durch faschistische Schlägertruppen am 2. Mai, dem Tag, an dem die ATO begann.
Zur selben Zeit nahm die Bewegung im Donbas zunehmend militärische Züge an, was es reaktionären Kräften erleichterte an Einfluss zu gewinnen. Militärische Konflikte üben immer eine große Anziehungskraft auf Abenteurer, kriminelle Elemente u.ä. aus. Ein Beispiel hierfür ist der Führer des bewaffneten Widerstands in Slowjansk, Strelkow, ein russischer Monarchist, der als freiwilliger Söldner in Tschetschenien und Serbien gekämpft hat.

Die Verfassung der Volksrepublik Donezk (VRD), die ohne Diskussion veröffentlicht wurde, stellt gegenüber der Unabhängigkeitserklärung einen reaktionären Schritt rückwärts dar. In ihr geht es um den „orthodoxen Glauben“ als Leitprinzip für die Republik, öffentliches und privates Eigentum werden auf die gleiche Ebene gestellt usw.

Das ist aber nur eine Seite der Gleichung. Als immer klarer wurde, das Russland diese
Volksrepubliken nicht unterstützen würde, dass die Arbeiterschaft eine immer aktivere Rolle im Widerstand einnahmen und die Forderung nach Verstaatlichungen lautstark erhoben wurden, stellten sich die Oligarchen im Donbas, die die Proteste zu Beginn stillschweigend oder aus taktischen Überlegungen noch unterstützt hatten, auf die Seite von Kiew. Der reichste Mann des Landes, Rinat Achmetow, dessen Unternehmen beinahe 300.000 Menschen in der Region beschäftigen, ging so weit, dass er den Versuch unternahm, die eigenen ArbeiterInnen gegen die Volksrepublik zu mobilisieren. Er scheiterte dabei jedoch erbärmlich.

Dies schürte aber nur die ablehnende Haltung gegen die Oligarchen. Zunächst drohte die VRD Achmetow mit Enteignung, falls er sich weiterhin weigere, Steuern an die Volksrepublik zu zahlen. Dann erklärte ein anderer Sprecher der VRD, dass Achmetow von Enteignungen nicht betroffen sein werde, da er jemand sei, mit dem man verhandeln könne. Später wurde in einer Stellungnahme der Volksrepublik Luhansk von der Enteignung des illegal privatisierten Eigentums, das den Oligarchen in die Hände gefallen war, geschrieben. Der Bürgermeister von Slowjansk verkündete ebenfalls die Verstaatlichung aller Betriebe in der Stadt. Das zeigt deutlich, dass die Führung innerhalb der Volksrepubliken in dieser Frage gespalten ist.

Von großer Bedeutung ist die Bewegung der Bergarbeiter von Donezk, die sich nun – unabhängig davon, ob sie im öffentlichen oder im privaten Sektor arbeiten – gegen die ATO und für den Rückzug der ukrainischen Truppen zusammengeschlossen haben. Die ArbeiterInnen sehen es aber auch sehr kritisch, dass die Führung der Volksrepubliken in Bezug auf soziale und ökonomische Fragen sehr unschlüssig ist. Auf ihrer letzten Demonstration war nicht eine russische Fahne zu sehen, was ein wichtiges Zeichen ist. Es gibt auch Gespräche bezüglich der Wiedergründung einer Kommunistischen Partei in Donezk, die nicht nur die KPU, sondern auch andere linke Gruppen wie Borotba einschließen soll.

In Bezug auf den Konflikt zwischen Kiew und den Volksrepubliken traf Strelkow eine ziemlich treffende Einschätzung der militärischen Lage: „Die ukrainische Armee hat die Grenze umzingelt und dicht gemacht. Angesichts der militärischen und zahlenmäßigen Überlegenheit der Armee können wir nur Widerstand leisten, aber keinen Gegenangriff starten. Es ist eine Frage von Wochen oder vielleicht Monaten, doch ohne die Hilfe von Russland können wir nicht überleben“.
Russlands Weigerung Hilfe zu leisten, kommt aus seiner Sicht einem Verrat gleich. Ihm zufolge könne die Bewegung erst nach einem „Maidan in Moskau“ wieder erstarken.

Aus seiner sehr engen russisch-nationalistischen und rein militärischen Perspektive hat er natürlich Recht. Allerdings ist ein Bürgerkrieg immer mehr als nur eine militärische Angelegenheit, der Bürgerkrieg wird auch mit politischen Mitteln geführt. Sollte die VRD doch die Oligarchen enteignen und auf dieser Basis einen Aufruf an alle arbeitenden Menschen in der Ukraine, auch in den westlichen Regionen, richten, würde dies auf ein mächtiges Echo stoßen.

In der Zwischenzeit haben Poroschenko, Putin und Merkel die Bewegung im Donbas gewissermaßen abgewürgt. Diese drei mächtigen Spieler verfolgen ein klares Ziel: Sie wollen ein Verhandlungsergebnis erzielen, das die Rebellen außen vor lässt. Kiew muss die militärische Kontrolle über das gesamte Territorium (ausschließlich der Krim, die bereits aufgegeben wurde) zurückerlangen, Russland will Zugeständnisse, die ihm Mitsprache in der ukrainischen Innenpolitik garantieren, außerdem will es seine Geschäfte mit der EU weiter betreiben, und Deutschland will schließlich seine Geschäftsinteressen in Russland und die Gaszufuhr sicherstellen.