Tariq Ramadan, 18.8.2013: „Mursi hat viele Fehler gemacht, aber dies ist ein Massaker“

Gewerkschaftsforum Hannover:

Die Massaker der ägyptischen Armee in den vergangenen Tagen haben – wenn auch zu einem sehr hohen Preis (vorsichtigen Schätzungen zufolge rund 800 Tote und Tausende Verletzte) – die Verhältnisse in Kairo und dem Rest des Landes deutlich gemacht. Die absurde These von der „zweiten Revolution“ ist vom Tisch und immer weniger Beobachter bezweifeln, dass es sich hier um einen klassischen Staatsstreich handelt, dem der „Volkswille“ nur als Vorwand diente.

Wobei der Hinweis erlaubt ist, dass sich im September 1973 bereits Chiles Putschgeneral und späterer Diktator Augusto Pinochet auf „den Willen des Volkes“ berief und meinte, dass „die Demokratie von Zeit zu Zeit in Blut gebadet werden muss“. Er konnte dabei durchaus auf eine stattliche Anzahl demonstrierender Kleinbürger verweisen, die zuvor gegen den gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und dessen linke Unidad Popular-Regierung auf die Straße gegangen waren.

Dennoch scheuen weiterhin Viele vor einer klaren Positionierung zurück. Man will sich schließlich nicht mit „Fundamentalisten“ gemein machen. Da lohnt sich ein Blick über die Grenze in das Zentralorgan des liberalen Schweizer Bürgertums, die „Neue Zürcher Zeitung“, die am 15.8.2013 das Gemetzel des Militärs bei der Räumung der beiden Protestcamps in Kairo so kommentierte: „Die Toten des blutigen Mittwochs sind mehr als nur Opfer eines gnadenlosen Machtkampfes am Nil. Sie liessen ihr Leben im Einsatz für die Wiederherstellung einer demokratisch legitimierten Ordnung und die Rückkehr Mursis in sein Amt. Das sind noble Beweggründe.“

Die NZZ stellt, bei aller Kritik an der Politik der Moslembruderschaft, auch die Massenunterstützung der Putschisten in Frage: „In diesem Prozess der Zermürbung konnten sich die Generäle auf den Sukkurs der Medien verlassen. Diese halten jene Version aufrecht, wonach die Wut von 30 Millionen Ägyptern genug der Legitimation für Mursis Sturz war. Warum denn Gewehre, wenn die Delegitimierung der Muslimbrüder auch mit nichtletalen Mitteln möglich gewesen wäre? Ist der Ausnahmezustand Voraussetzung für die Restauration?“

Angesichts der wenige Tage später von zwei Gerichten angeordneten Freilassung des im Februar 2011 gestürzten Ex-Diktators Hosni Mubarak sowie der Mordanklage gegen den aus Protest gegen das Blutbad zurückgetretenen linksliberalen Vizepräsidenten wird– ebenso wie das erlassene Streikverbot – klar, wohin die Reise geht.  Auch wenn sich die meisten Gewerkschaftsführer des Landes weiterhin als glühende Verehrer der Schlächter erweisen und ihr Schicksal mit dem der Putschisten verbinden.

Eine ähnliche Einschätzung wie die NZZ vertritt im folgenden Interview mit der großen, mitte-linken italienischen Tageszeitung „la Repubblica“ vom 18.8.2013 Tariq Ramadan. Der Professor für Islamstudien an der Universität Oxford geht allerdings noch einen Schritt weiter als die NZZ und weist auf die soziale Frage, das heißt die Forderung der Lohnabhängigen nach Arbeit, kräftigen Lohnerhöhungen, gewerkschaftlichen Freiheiten und anderen sozialen Zugeständnissen, hin.

Für viele Vertreter des islamophoben, pro-westlichen, um nicht zu sagen pro-imperialistischen Lagers, hierzulande, die ansonsten gern gegen Dämonisierungen und Verschwörungstheorien wettern, ist der Ende des Monats 51jährige in Genf geborene, Ägyptenstämmige Intellektuelle fast so etwas wie der Chefdämon und ein ganz gefährlicher, hinterhältiger und perfider „Islamist“. Dafür werden gern auch biologische Gründe angeführt, nämlich die Tatsache, dass sein Großvater Hassan al Banna war, der 1928 die Moslembruderschaft gründete, und sein Vater Said Ramadan, ein wichtiger Vertreter der Organisation, der unter der Regentschaft des arabischen Nationalisten und Laizisten General Abdel Nasser ins Exil gezwungen wurde.

Wer Tariq Ramadan als Referent und Teilnehmer an diversen Podiumsdiskussionen auf den Europäischen Sozialforen erlebt hat, weiß, dass er in Wirklichkeit ein Teil der linken, globalisierungskritischen Bewegung ist. Auch deshalb finden wir seine Einschätzung interessant, wobei wir uns die Einleitung des publizistischen Flaggschiffs der Familie De Benedetti gehörenden Holding (verkaufte Auflage von „la Repubblica“ aktuell 432.000 Exemplare mit einem Leserkreis von 2,835 Millionen pro Tag) ersparen.

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Das Interview:

Es spricht Tariq Ramadan, Professor für Islamstudien in Oxford und Enkel des Gründers der Moslembrüder

„Mursi hat viele Fehler gemacht, aber dies ist ein Massaker“

FRANCESCA CAFERRI

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Professor Ramadan, wie ist Ihre Reaktion angesichts der Ereignisse in diesen Stunden?

„Ich bin empört. Die Moslembrüder haben in den letzten Monaten nichts als Fehler gemacht. Aber rechtfertigt nicht den Staatsstreich und die Gemetzel. Und noch viel weniger die Versuche einer Realitätsverdrehung. Zu sagen, dass der Großteil der Ägypter auf der Straße die Absetzung Mursis gefordert hat, wie es die Armee tut, ist eine Unwahrheit. Genauso wie die Behauptung falsch ist, dass all jene, die in den vergangenen Tagen auf der Straße waren, auf Seiten der Moslembrüder stehen. In jenen Zeltstädten gab es Kopten, Laizisten und Liberale. Leute, die dort waren, um deutlich zu machen, dass sie keinen Staatsstreich wollten. Und sie hatten keine Waffen. Das ist nichts anderes als eine der Lügen der Armee.“

Was meinen Sie?

„Die Armee hat gesagt, sie hätte in den Lagern Waffen gefunden, aber die waren sechs Wochen lang nicht benutzt worden. Und weiter: Niemand hatte die Christen während der gesamten Krise angerührt. Doch genau jetzt, wo es von Nutzen ist, Angst und Schrecken zu verbreiten, werden die Kirchen angezündet. Das sind alles nur Lügen, nützliche Elemente für die Militärs, um zu erklären: ‚Entweder seid Ihr mit uns oder mit den Extremisten‘.“

Viele Ägypter waren mit der Regierung der Moslembrüder jedoch nicht zufrieden und stehen heute auf Seiten der Streitkräfte.

„Die Moslembrüder haben keinerlei politische Vision gezeigt. Sie haben sich nicht um die Arbeitslosigkeit, um die sozialen Dienste, um die wahren Probleme gekümmert. Sie haben es an einer Öffnung gegenüber der Gesellschaft fehlen lassen und niemanden in die Entscheidungsprozesse einbezogen, der nicht so dachte wie sie. Mursi war nie in der Lage der Welt zu sagen, ob er oder die Moslembruderschaft entscheidet. Man kann allerdings der Armee nicht glauben, wenn sie sagt, dass die Mehrheit der Ägypter in den vergangenen Wochen auf der Straße war und eine Intervention gegen die Regierung verlangt hat. Der Großteil der Ägypter ist zu Hause geblieben. Dies war ein Staatsstreich, der von den Generälen durchgeführt wurde, um die totale Kontrolle des Landes zu behalten. Ich denke uns stehen nichts anderes als finstere Zeiten bevor.“

Ist das das Ende des Arabischen Frühlings?

„Ich persönlich habe nie an den Arabischen Frühling geglaubt. Aber ich bin tief enttäuscht von den so genannten Liberalen, die monatelang die Demokratie gepriesen haben und sich nun an die Seite der Armee stellen. Ich glaube, dass der Weg, um in der ägyptischen Gesellschaft wieder konstruktive und demokratische Energien zu entfesseln, lang und schmerzhaft sein wird. Der einzig mögliche Ausweg wäre die Union aller Kräfte, die gegen die Armee sind: den Liberalen, den Moslembrüdern, den Christen und den Intellektuellen. Sie müssten die Rückkehr der Militärs in ihre Kasernen verlangen und die Wiederherstellung einer zivilen Regierung. Aber das wird so schnell nicht geschehen.“

Viele sprechen von einer möglichen Radikalisierung der Moslembruderschaft. Sie kennen die Bewegung wie kein anderer. Fürchten Sie, dass die Extremisten die Oberhand gewinnen könnten?

„Es wird eine Radikalisierung geben, aber nur eines kleinen Teils der Gruppe. Die Anderen werden einen Modus finden müssen, um sich neu zu erfinden und an eine Zukunft im Untergrund denken müssen, so wie es in der Vergangenheit lange der Fall war. Es wird Sache der Jugendlichen sein zu begreifen, was die Bruderschaft in Zukunft sein soll. Mit Sicherheit nicht nur die Wächter eines reinen und harten Islam, weil das in Ägypten nicht funktioniert. Die Tatsachen zeigen es.“

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:   Gewerkschaftsforum Hannover

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