Zwei Beiträge der „Arbeitermacht“ zum Militärputsch in Ägypten (17.8.2013)

(1) Ägypten: Das blutige Wüten der Konterrevolution
Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale
(2) Ägypten nach dem Militärputsch
Dave Stockton

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(1) Ägypten: Das blutige Wüten der Konterrevolution

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale

Offizielle Zahlen sprechen von über 500 Menschen, die beim Versuch der ägyptischen Generäle, den Protest der Muslimbrüder niederzuwerfen, massakriert wurden. Ihr Protest richtet sich gegen den Militärputsch am 3. Juli, durch welchen ihr Präsident, Mohamed Mursi, abgesetzt und verhaftet worden war. Die Muslimbrüder sprechen sogar von tausenden Toten. Das Militär bzw. das Präsidialamt verhängte außerdem einen einmonatigen Ausnahmezustand.
Welch Illusionen man auch immer in die “revolutionären” Ziele der Generäle gehabt haben mag, so wurden sie auf den blutigen Böden der Kairoer Krankenhäuser und Leichenhallen weggeschwemmt. Die Wunden Tausender, welche sich gegen den Militärputsch gestellt haben, sind ein Beweis dafür, dass die Militärjunta um al-Sisi ein unerbittlicher Feind der ägyptischen Revolution ist.
Die Arme entschied sich, die Bruderschaft zu zerschlagen, da sie sich keinen zivil-politischen Rivalen parallel zu ihrer Herrschaft erlauben kann. Die Revolution befindet sich somit in der Stunde ihrer größten Gefahr. Das Militär, welches sich selbst als „Verteidiger der Revolution“ darstellt, erweist sich nun als ihr Totengräber.
All jene, welche die Revolution des 11. Februar unterstützten und sie gegen Tantawi und Mursi verteidigten, müssen dies nun auch gegen al-Sisi tun. Sie müssen sich gegen den Ausnahmezustand stellen, dass Recht auf friedliche Massenproteste auf den Straßen und Plätzen verteidigen, das Streikrecht und freien Medienzugang einfordern sowie die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, darunter der Muslimbrüder und Mursi selbst.

Zwei Gesichter der Konterrevolution

Die Muslimbrüder haben jedoch selbst den Prozess eingeleitet, der zu den Massakern an der Rabaa al-Adawiya Moschee sowie am Nadha Platz führte.
Durch einen manipulierten Wahlprozess, welcher die meisten Kräfte der Februarrevolution außen vor ließ, an die Macht gekommen, begann Präsident Mursi seine Position und die Interessen der Kapitalsektionen, welche er repräsentierte, zu sichern. Dies geschah durch Angriffe in die demokratischen Errungenschaften der Revolution.
Mursi benutzte den von Mubarak, Sadat und Nassar geerbten Sicherheitsapparat gegen die ägyptischen ArbeiterInnen und die Jugend, welche weiter darum kämpften, die Errungenschaften von 2011 auszuweiten – Errungenschaften, an denen die Führung der Muslimbrüderschaft keinen Anteil hatte.
Als die UnterstützerInnen der Muslimbrüder-Proteste auch Streiks der Arbeiterklasse angriffen, als sie nichts für die Entlassung der in Militärgefängnissen eingesperrten RevolutionärInnen taten und ihre Schlägertrupps koptische Kirchen angriffen, wandten sich die Masse der ägyptischen ArbeiterInnen und Jugendlichen gerechtfertigter Weise gegen sie. Dies gipfelte in den überwältigenden Anti-Mursi-Demonstrationen im Mai und Juni.
Obwohl die Herrschaft von Mursi und seiner Muslimbrüderschaft einen neuen Feind der ägyptischen ArbeiterInnen repräsentiert, zeigt der Militärputsch von al-Sisi, dass der alte Feind, die Militärkaste und ihr repressives Regime, nie besiegt wurde. Er hat nur auf seine Zeit gewartet.
Als über 17 Millionen Menschen gegen Mursis autoritäre Präsidentschaftsherrschaft aufbegehrten, sahen die Generäle ihre Chance und forderten ein weiteres Mal den Fall des Regimes und die Weiterführung der Revolution.
Dank einer Allianz zwischen den opportunistischen FührerInnen der Tamerod-Bewegung, darunter verräterische Liberale wie El Baradei – welche sich eine Chance ausmalten, das Militär zur Ablösung von Mursi zu benutzen – und den Feloul, den ehemaligen Agenten des Mubarak-Regimes, war die Armee in der Lage, der Bewegung auf der Straße die Initiative zu entreißen, so wie sie es schon 2011 getan hatte, als sie Mubarak aus dem Amt jagte.

Eine bittere Ernte

Die Putschisten vom 3. Juli sprachen von der „Verteidigung der Revolution“ und der Vorbereitung neuer Wahlen. Jedoch macht die Entscheidung, die Basis der Muslimbrüder zu zerschlagen, deutlich, dass die Arme jede kommende Wahl als reine demokratische Farce verwenden wird, um ihre eigentliche Diktatur zu verschleiern.
Die Politiker, welche den Putsch begrüßten und dem Marionetten-Kabinett beitraten, haben Blut an ihren Händen, die sie auch nicht – wie El Baradai – durch einen Rücktritt oder die Beteuerung, dass sie betrogen worden wären, abwaschen können.
Die nationale Kapitalistenklasse Ägyptens ist schwach und gespalten. Ihr stärkstes ziviles Element, repräsentiert durch die Muslimbrüder, kann die ökonomische und physische Kraft des Militärs nicht direkt herausfordern. Die Teile der KapitalistInnen, welche durch die liberale Partei repräsentiert werden, sind noch schwächer.
Es ist nun eindeutig, dass selbst der Kampf um eine demokratische Revolution – welche freie und gleiche Wahlen, die Rede- und Versammlungsfreiheit, Frauen- und religiöse Minderheitsrechte sowie das Streik- und Organisationsrecht der Arbeiter etablieren könnte – nicht den Liberalen oder IslamistInnen, ja selbst den mit ihnen verbundenen radikaleren Jugendorganisationen überlassen werden kann.
Wer kann nun aber die Revolution vor der Konterrevolution – in ihrer militärischen oder islamistischen Form – retten?

Die Klassen, die die Revolution tragen, müssen sie auch führen!

Das größte Hindernis, um die revolutionären Ziele der ägyptischen Arbeiterklasse und verarmten Massen zu erreichen, bleibt das Militär und ihre institutionalisierte Form der Repression: die Geheimpolizei, die paramilitärischen Einheiten und die Spezialschlägertrupps, welche Berichten zufolge für die gezielte Ermordung von AktivistInnen verantwortlich sind.
Ohne die Kräfte des alten Regimes – welche nicht nur von den Generälen, sondern auch von den Muslimbrüdern geschützt und aufrechterhalten wurde – restlos zu zerschlagen, kann die Revolution nicht weitergehen. Die Macht der Generäle über ihre Einheiten, die Kette an Befehls- und Militärdisziplin muss durchbrochen werden. Dies bedeutet, dass die Basis der Soldaten davon überzeugt werden muss, die Schießbefehle auf die Bevölkerung zu verweigern und ihre Offiziere und Generäle auszuwechseln. Eine neue Militärführung und -disziplin muss durch die Wahl von Soldatenkomitees und -räten geschaffen werden. Nur so können “die Armee und das Volk eine Hand sein”. Die mörderischen Spezialeinheiten müssen zerschlagen und diejenigen, die diese Befehle gaben, vor ein revolutionäres Gericht gestellt werden.
Die demokratischen Ziele der Februarrevolution können nur dann Wirklichkeit werden, wenn die Arbeiterklasse die Führung übernimmt im Kampf zur Entmachtung der Diktatur sowie bei der Etablierung der revolutionären Macht der Massen, basierend auf Räten der ArbeiterInnen, der Jugend, der Bauern und Bäuerinnen und der städtischen Armut. Aber wenn die Macht der ausgebeuteten Klassen etabliert und verteidigt werden soll, darf sich die Revolution nicht mit demokratischen Forderungen begnügen. Um die Forderung des Februar 2011 nach “sozialer Gerechtigkeit” zu realisieren, muss die Revolution eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung bilden, welche soziale Maßnahmen beschließt: die Nationalisierung der Fabriken, Banken und großen Handelsunternehmen, die Beschlagnahme des Militärbesitzes sowie des Großgrundbesitzes.
Kurz gesagt, die ägyptische demokratische Revolution ist ununterbrochen konfrontiert mit der Bewältigung von demokratischen sowie sozialistischen Aufgaben. Dies kann nicht durch einen automatischen, „unbewussten“ Prozess funktionieren, diese Maßnahmen benötigen die Führung der organisierten Arbeiterklasse. Deshalb müssen die ArbeiterInnen, unterstützt von der revolutionären Jugend, Delegiertenräte und Massenversammlungen einberufen, sowie den Aufbau einer Miliz voranbringen, um sich selbst gegen das Militär und die islamistischen Schläger zu verteidigen. Im Zuge dessen und so schnell wie möglich, müssen sich alle sozialistischen Gruppierungen und GewerkschaftsaktivistInnen in einer revolutionären Partei vereinigen. Diese benötigt ein klares Programm, welches auf der Strategie der Permanenten Revolution basiert.

Für Massenmobilisierungen, Streiks und die Bildung von Selbstverteidigungsorganen!

Die Tage der Platzbesetzungen sind solange vorbei, wie der Ausnahmezustand anhält und die Soldaten ihren Offizieren und Generälen gehorchen. Die erste Aufgabe ist es nun, deutlich zu machen, dass nicht nur die IslamistInnen gegen den Putsch sind, sondern auch die Arbeiterklasse und die revolutionäre Jugend.
Die gesellschaftliche Stärke der Generäle liegt darin, dass sie einen großen Teil der Bevölkerung davon überzeugen konnten, dass die Muslimbrüder die eigentliche Gefahr darstellen und das Militär nur ausgerückt wäre, um Demokratie, Säkularismus und Minderheitenrechte zu verteidigen. Diese Stärke kann nur durch massive politische Agitation der ArbeiterInnen- und Jugendorganisationen geschwächt werden, welche ein sofortiges und bedingungsloses Ende des Ausnahmezustandes fordern.
Gegen das Terrorregime müssen ArbeiterInnen ihre eigene Verteidigung organisieren. Zu einer Zeit, in welcher die Armee ihre Waffen auf die Bevölkerung richtet, wäre es Selbstmord zu glauben, alles andere als bewaffnete Selbstverteidigung stünde nun auf der Tagesordnung. Wie das Beispiel in Syrien jedoch zeigt, kann selbst ein bewaffnetes Volk allein keine professionell und diszipliniert geführte Armee besiegen, v.a. wenn diese Arme jedes Jahr 3,1 Milliarden Dollar von den USA erhält.
Der revolutionäre Kampf hängt stark von der Fähigkeit der ArbeiterInnen ab, die einfachen Soldaten für sich zu gewinnen. Selbst al-Sisi ist misstrauisch beim Einsatz von Grundwehrdienern bei der blutigen Unterdrückung. Er vertraut lieber seinen Spezialeinheiten. Die größte Angst der Generäle ist, dass die Disziplin der großen Masse der Soldaten von der Loyalität zu ihrer eigenen Klasse untergraben wird. Auf diesen wunden Punkten müssen sich die Organisationen von ArbeiterInnen und Bauern konzentrieren. Solidaritätsaufrufe sollten nicht nur von den nationalen Organisationen, sondern auch von den Familien und Heimbezirken der Soldaten erfolgen.
Alle Revolutionen haben gezeigt, dass diese Methode, verbunden mit dem Aufkommen einer neuen Kraft im Land – die organisierten ArbeiterInnen und Bauern – die Soldaten davon überzeugen kann, ihre Waffen umzudrehen und auf ihre Generäle und nicht mehr ihre eigenen Brüder und Schwestern auf der Straße zu richten.
Die Arbeiterklasse muss sich ihrer historischen Kampfmethoden bewusst werden, um ihre wahre Kraft gegen das Militärregime mobilisieren zu können. Wir müssen davon ausgehen, dass das Militär den Ausnahmezustand auch dazu verwenden wird, Streiks zu zerschlagen und ArbeiterInnen zu verhaften.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn der Widerstand in den Fabriken und industriellen Bezirken wächst, wird der Aufruf nach einem Generalstreik das wichtigste Thema werden. Dieser muss initiiert und angeleitet werden von demokratischen Räten der Arbeiterklasse. So könnten Millionen von Menschen aktiviert werden und die ausbeuterische Kontrolle über die von den ägyptischen ArbeiterInnen produzierten Wohlstand herausfordern.

Einberufung einer konstituierenden Versammlung und der Kampf für eine Arbeiterregierung

Die Generäle haben eine neue konstitutionelle Verordnung herausgegeben und werden alles in ihrer Macht stehende tun, um die Wahlen zu manipulieren, sollten sie diese überhaupt durchführen. ArbeiterInnen und revolutionäre Jugendliche müssen deshalb eine souveräne konstituierende Versammlung einfordern, ausgerufen und angeleitet von den demokratischen Organisationen der Arbeiterklasse. Die Aufgabe dieser Versammlung sollte die Erarbeitung einer neuen Verfassung sein, welche die Rechte der Arbeiterklasse und Unterdrückten gegen die Interessen der Generäle, der KapitalistInnen und den (US)-Imperialismus verteidigt.
Ihr Gelingen oder ihr Scheitern hängt davon ab, ob sie die Fähigkeit hat, die Basis einer neuen Konterrevolution zu zerstören. Das Eigentum der Kapitalisten, die Generäle sowie die Anlagen ausländischer Millionäre müssen verstaatlicht und unter Arbeiterkontrolle gestellt werden. Die Generäle müssen verhaftet und vor Gericht gestellt werden.
Die konstituierende Versammlung muss zusammensetzt sein aus Delegierten, welche direkt abwählbar sind. Es darf nur eine Regierung aus ArbeiterInnen, Bauern und Jugendlichen anerkannt werden, welche sich auf die Massenorganisationen des Kampfes stützt, die demokratischen Forderungen der Bevölkerung in Gänze erfüllt, die Bewaffnung der Massen voranbringt und den Repressionsapparat auflöst. Diese Regierung wird die Enteignung der AusbeuterInnen durchführen, um die dringendsten Bedürfnisse der ArbeiterInnen, der Armen und Arbeitslosen zu befriedigen.

– Nieder mit al-Sisi und der Armeespitze – bringt die Mörder der Bevölkerung vor Gericht!
– Schluss mit dem Ausnahmezustand und der Ausgangssperre – Wiedereinführung der Versammlungs- und Demonstrationsrechte! Freilassung aller politischen Gefangenen!
– Verteidigt die Kopten u.a. religiösen Minderheiten, verteidigt Frauen gegen Übergriffe von religiösen Fanatikern oder Staatsprovokateuren!
– Weder ein Militärregime noch die Rückkehr von Mursi – für eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung!

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(2) Ägypten nach dem Militärputsch

Dave Stockton

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde schon vor dem Ausnahmezustand verfasst. Wir veröffentlichen ihn hier, weil er ihn schon auf die weitere Zuspitzung hingewiesen hat.

Unter dem anhaltenden Widerstand des Massenanhangs der Moslembruderschaft scheint der am 3. Juli durch den obersten Armeegeneral Fattah-al-Sisi inszenierte Putsch zu wanken. Es ist dem Militär nicht gelungen, den Widerstand der DemonstrantInnen für den abgesetzten Präsidenten Mursi zu brechen – trotz der Massaker in der Rabaa al-Adawija-Moschee und dem Blutbad bei der gewaltsamen Räumung des Protestcamps, das am 14. August 300 Todesopfer forderte und wonach der Ausnahmezustand verhängt worden ist.

Druck

Die provisorische Regierung und ihre militärischen Drahtzieher stehen auch unter starkem Druck durch die US-Administration. US-Staatssekretär William Burns sowie die Senatoren John McCain und Lindsay Graham weilten mehrere Tage in Ägypten, um mit beiden Seiten zu verhandeln.
Die außenpolitische Sprecherin der EU, Catherine Ashton, und ihr Stellvertreter Bernardino Leon sind ebenfalls nach Kairo geeilt, um zu vermitteln und Druck auf Liberale wie den provisorischen Vizepräsidenten El Baradei von der Nationalen Rettungsfront auszuüben. Ashton wurde sogar eine Unterredung mit dem immer noch unter Militärarrest stehenden Ex-Präsidenten Mursi gewährt.
In ähnlicher Mission trafen auch Burns und Leon gemeinsam mit Spitzendiplomaten aus Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Unterstützer der Moslembruderschaft sind, mit Khairat-al-Schater zusammen, der noch in Haft ist. Al-Schater ist als millionenschwerer Kapitalist einer der Hauptgeldgeber, praktisch die Nummer 2 in der Bruderschaftsrangfolge und gilt als ‚pragmatischster’, d.h. kompromissbereitester Kopf der islamistischen Führungsriege.
Das einzige Problem für die amerikanischen und europäischen Kompromisspläne stellt der wieder auflebende Rückenwind der Popularität für die Moslembruderschaft dar, der auf die Wiedereinsetzung von Mohammed Mursi als Präsident abzielt.
Nach dem Ende des Fastenmonats Ramadan hat der in die Enge getriebene provisorische Premierminister Hasem el-Beblawi nun den Abriss der Protestcamps der Mursi-Anhänger befohlen.Wenn die Armeedisziplin anhält, würde dies die Errichtung einer totalen Militärdiktatur bedeuten. Wenn sie bröckeln sollte, könnte dies den Weg freimachen für eine neu gefestigte Herrschaft der Moslembruderschaft.

Zwickmühle

Die Liberalen und die radikaleren Kräfte, die sich mit ihnen in der Tamerod-Front verbündet haben, hatten die Demonstrationen am 30. Juni in Gang gesetzt. Nun befinden sie sich selbst in der Zwickmühle. Wenn das Militär auf totale Unterdrückung setzt, werden sie als Steigbügelhalter für die Restauration des alten Regimes (Feloul) angesehen. Wenn die US-Regierung einen Kompromiss zwischen Armee und Moslembruderschaft aushandelt, werden sie wahrscheinlich die großen Verlierer sein. Ein solcher Kompromiss würde zweifellos Zugeständnisse an die reaktionäre Sozialpolitik der Islamisten auf Kosten der weltlichen Verfassung beinhalten. Eine ‚all-inclusive’-Lösung nach den Vorstellungen von EU und USA würde bedeuten, dass die Liberalen als Geiseln in einer militär-islamistischen Feloul-Regierung gefangen sein würden.
Bei solchen Resultaten müssten die Liberalen damit rechnen, dass ihr Massenanhang auf den Straßen tief enttäuscht werden würde. Bei allen künftigen Wahlen würden sie für ihren Opportunismus bei der Unterstützung für den Militärputsch abgestraft werden.
Trotz des riesenhaften Aufruhrs in der Bevölkerung gegen Mursi im Mai und Juni war der al-Sisi-Putsch dennoch zweifelsohne ein konterrevolutionärer Akt und keinesfalls eine Fortsetzung der Revolution, wie die Liberalen und teilweise sogar Linke dies behaupteten.
Tamerod hatte von Beginn an die Unterstützung des alten Mubarak-Regimes, des Feloul. Die Schnelligkeit und Koordination, mit der das Militär handelte, zeigt zweifellos, dass dies keine normale ‚revolutionäre’ Erhebung war. Welche revolutionäre Welle kann wirklich auf die Unterstützung des Oberkommandos von Armee und Polizei rechnen? Das ist völlig zu unterscheiden von der Gewinnung aufrührerischer einfacher Soldaten.
Es bedeutet jedoch nicht, wie einige linke Mursi-SympathisantInnen meinen, dass die Aufstände reine Verschwörung mit Beteiligung der US- und EU-Imperialisten gewesen wären, um den Präsidenten zu stürzen. Seine Regierung stellte keine antiimperialistische Gefahr dar, und seine neoliberale Politik entsprach dem Willen von Teilen der Bourgeoisie, die nicht mit dem Militär verbandelt waren. Mursi führte die Pläne des IWF zur Öffnung der ägyptischen Wirtschaft ergeben durch.
Seine Behauptung, er vertrete ein wahrhaft demokratisches Regime, war allerdings völlige Schaumschlägerei, selbst wenn man die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen und die Arbeit der betrügerischen Verfassungversammlung außer Acht lässt. Seine Deklaration vom 22. November 2012, in der er seine Präsidentenbefugnisse außerhalb jeder juristischen Kontrolle stellen wollte, sowie die Einsetzung eines Schura-Rates mit gesetzgeberischer Macht, der zu einem Drittel von ihm ernannt wurde, waren ganz klar eine Aushebelung der bestehenden Verfassung. Der konterrevolutionäre Charakter seiner Regierung ist belegt durch die zunehmende Zahl von Misshandlungen und Morden, verübt von Banden der Bruderschaft an revolutionären Jugendlichen, AktivistInnen der unabhängigen Gewerkschaften, streikenden ArbeiterInnen und Kopten in mehreren ägyptischen Städten.
Mursis Regierung war durch und durch konterrevolutionär und ihr Verweis auf die Legitimität durch Wahlen hatte keine Gültigkeit unter den Bedingungen einer revolutionären Entwicklung, die ihre Legitimität aus der Mobilisierung und Aktivität der Massen bezieht. Die Massenbewegung vom Mai/Juni gegen Mursi war echt, auch wenn sie wahrscheinlich von Kräften des Staates im Staat, die ansonsten einer solche Bewegung entgegengewirkt und sie unterdrückt hätten, koordinativ unterstützt worden ist.
Der Militärputsch vom 3. Juli hat jedoch alle Vorteile des Massenwiderstands gegen Mursi im Nu beseitigt. Denn nun genoss die Moslembruderschaft die offensichtliche demokratische Legitimität des Widerstands ihrerseits gegen die Armeeaktionen.
Die Ermutigung zum Militärputsch oder dessen Unterstützung, auch auf dem Höhepunkt der massenhaften Anti-Mursi-Bewegung, war eine opportunistische, ja abenteuerliche Taktik seitens der radikal-demokratischen Kräfte. Abenteuerlich, weil sie kurzsichtig die soziale Massenbasis der Moslembruderschaft unterschätzte, die praktisch noch existierte, obschon sie sich durch die Erfahrungen in Mursis Amtszeit abgeschwächt hatte. Opportunistisch ist sie, weil sie die Desillusion über die Bruderschaft durch neue Illusionen in die „bevölkerungsfreundliche“ und „demokratische Glaubwürdigkeit“ des Armeeoberkommandos ersetzt hat, ganz zu schweigen von der Nichtbeachtung der Rolle der Feloul-Kräfte.
Jede Unterstützung für die Machenschaften dieser Gruppe wirkt wie ein Bumerang auf alle wahrhaft populären Kräfte. Es war richtig, für Mursis Rücktritt zu demonstrieren; es war falsch, al-Sisis Putsch zu unterstützen. Es wäre die Pflicht von RevolutionärInnen gewesen, vom ersten Augenblick an den Putsch vollkommen abzulehnen und dagegen auf der Straße so weit wie möglich aufzutreten.

Die Politik der „Revolutionären Sozialisten“

Während dieser Ereignisse schwankten die „Revolutionären SozialistInnen von Ägypten“ (RSÄ), Teil der „Internationalen Sozialistischen Tendenz“ (in Deutschland: Marx21), an deren Spitze die britische Socialist Workers Party steht, hin und her. Anfangs führte sie ihre Neigung zur Nachtrabpolitik und zum Spontaneismus, die sie zweifelsfrei von der IST gelernt haben, dazu, die Bedeutung des Militärputsches zu leugnen oder herunter zu spielen und die Ereignisse als eine weitere Welle der Revolution zu begrüßen.
Dies wurde mit ihrem Kommentar vom 5. Juli deutlich: „Der 30.6. war zweifellos der historische Beginn einer neuen Welle der Ägyptischen Revolution, die größte seit Januar 2011. Die geschätzte Zahl der DemonstrantInnen an diesem denkwürdigen Tag betrug noch nie da gewesene 17 Millionen. Die Bedeutung übersteigt die Beteiligung von Überbleibseln des alten Regimes oder die offensichtliche Unterstützung durch Armee und Polizei.“
In Hinsicht auf das Militär, das Mursi gestürzt hat, fährt der Kommentar fort: „Aber es liegt eine besondere Logik in Revolutionen der Bevölkerung, die sich nicht den Illusionen oder Plänen der Liberalen oder Feloul-Angehörigen unterwirft, selbst wenn Teile der Massen vorübergehend von den Losungen und Versprechungen dieser Elite angetan sind, genau so wie sie zuvor mit denen der islamistischen Elite sympathisiert haben.“
Die RSÄ folgert: „Die Geschehnisse in Ägypten zeigen den Höhepunkt der Demokratie, eine Revolution von Millionen, um unmittelbar einen Herrscher zu stürzen. Die Entfernung von Mursi aus dem Amt durch das Militär stand bereits von vornherein fest, als die Armee sah, dass die Massen die Frage schon auf den Straßen und Plätzen Ägyptens gelöst hatten.“
Im Laufe des Juli trat die Logik des Militärputsches jedoch immer deutlicher zu Tage. Es wurde klar, dass die fortschrittlichen Massen von Liberalen und Armee benutzt und getäuscht worden waren. Die brutale Repression gegen Platzbesetzungen und beabsichtigte Demonstrationen von Mursi-Anhängern entlarvte die lange gehegten Absichten der Militär- und Feloul-Kreise. Die ‚neue Welle der ägyptischen Revolution’ versandete, als dies den Massen bewusst wurde.
Das blieb auch den „Revolutionären SozialistInnen Ägyptens“ nicht verborgen. Innerhalb von Wochen verweigerten sie korrekt jede Unterstützung für den Militärputsch oder die ausgeübte Unterdrückung. In ihrer Erklärung am 25.7. schrieben sie: „Gleich welche Verbrechen die Bruderschaft gegen die Bevölkerung und gegen die Kopten begangen hat, in Verteidigung ihrer Macht im Namen der Religion, geben wir Armeeoberhaupt al-Sisi nicht die Autorität, die Moslembruderschaft zu verfolgen. Wir gehen nicht am Freitag auf die Straße, um dem Militär einen Blankoscheck auszustellen, dass es Massaker anrichtet.“
Sie fügten noch korrekt hinzu: „Dem alten Staat mit all seinen repressiven Einrichtungen ein Mandat zu geben, gegen ihre ehemaligen Spießgesellen vorzugehen, heißt auch, ihm hinterher freie Hand bei der Unterdrückung jeglicher Opposition zu lassen. Sie werden alle Protestbewegungen, Arbeiterstreiks, Sitzblockaden und Demonstrationen unterdrücken.“
Nach dem 25. Juli verurteilte ihre Erklärung einmütig das Massaker und verteidigte auch das Recht der Unterstützer der Bruderschaft zu demonstrieren: „Wir verteidigen das Recht der gesamten Bevölkerung, ihre Meinung mit allen friedlichen Mitteln, seien es Demonstrationen oder Sitzblockaden kund zu tun. Dieses Recht ist in der Januarrevolution 2011 mit dem Blut unserer Märtyrer erkämpft worden.
Wir verurteilen das Massaker, das Dutzende Arme aus der Provinz und Jugendliche der Bruderschaft das Leben gekostet hat (…) Die auf die Leiber der Bruderschaft gerichteten Gewehre werden unter dem Vorwand, dass die Produktion laufen müsse, schnell auch auf die RevolutionärInnen und diejenigen zielen, die unter den ArbeiterInnen und Armen gegen das Regime protestieren.“
Die RSÄ haben auch die „Initiative des Dritten Platzes unterstützt“, zu der die Partei „Starkes Ägypten“ unter Leitung des früheren Bruderschaftsführers Abdel Moneim Aboul Fotouh, aber auch linke Gruppen aufgerufen haben, und die auf dem Sphinx-Platz in Kairo demonstrierten. Berichten zufolge hatte diese jedoch Bewegung kein massenhaftes Echo. So läuft sie Gefahr, zwischen dem Militär und den Liberalen auf der einen und den Bruderschaftsislamisten auf der Gegenseite zerrieben zu werden.

Wie weiter?

Zweifellos braucht Ägypten eine neue Welle der Revolution. Die Ziele der demokratischen Umwälzung gegen Mubarak sind nicht erreicht worden, weil die Massen, die die Revolution gemacht haben, die Jugend und AktivistInnen der unabhängigen Gewerkschaften keinen Weg fanden, ihre Macht aufrecht zu erhalten, nachdem Mubarak gestürzt war. Als Folge riss zunächst der Oberste Rat der Streitkräfte, dann die Moslembruderschaft und nun wieder die Armee die Macht an sich, diesmal sogar mit Hilfe der Liberalen.
Die Aufgabe von RevolutionärInnen besteht jetzt in der Zusammenführung der Organisationen der Jugend und Arbeiterschaft unter einer politischen Führung, einer Partei, die einem unabhängigen politischen Programm folgt. Dies muss an erster Stelle für den Sturz der Militärherrschaft und der Übergangsregierung, gegen die Wiedereinsetzung Mursis als Präsident auftreten. Es muss die Einberufung einer souveränen Verfassunggebenden Versammlung auf Grundlage von demokratischen Wahlen unter der Aufsicht der Organisationen der ArbeiterInnen und der Massen fordern.
Klar ist auch, dass eine solche Revolution mehr braucht als die Besetzung von städtischen Plätzen, um Erfolg zu haben. Solche Massendemonstrationen können bei der Bildung einer revolutionären Bewegung zwar hilfreich sein, aber weit stärkere Kräfte können durch einen Generalstreik und von demokratischen Arbeiter- und Bauernorganisationen aktiviert werden. Das bereits vergossene Blut unterstreicht die Notwendigkeit, dass sich Arbeiterorganisationen bewaffnen und Arbeitermilizen formieren.
Ein solcher Kampf um demokratische Rechte, angeführt von Arbeiterorganisationen, vermag nicht nur die revolutionäre Jugend und Studentenschaft einzubeziehen, sondern auch die Massen der städtischen Armut und Kleinbauernschaft und sogar Teile, die zuvor die liberale Bewegung unterstützt hatten. Im Laufe des Kampfes werden aber Schritte über die demokratische Revolution hinaus notwendig sein. Maßnahmen zur Verteilung von Lebensmitteln und zur Stromversorgung, zur Sicherung von lebenswichtigem Verkehr und Kommunikation müssen von den ArbeiterInnen selbst durchgeführt werden, weil die Kapitalisten und der Staatsapparat den Generalstreik brechen wollen.
Eine Organisierung auf dieser Ebene erfordert weit mehr als den Einsatz von Gewerkschaften oder Freiwilligen vor Ort. Jede Revolution hat gezeigt, dass allein Arbeiter- und Soldatenräte, die durch Delegierte zusammenarbeiten, sowohl die Autorität genießen, solche Beschlüsse zu fällen wie auch über die Mittel verfügen, sie zu verankern. Diese Organe sollten die Sicherheit vor Ort und die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung überwachen. RevolutionärInnen propagieren, dass jede neue Regierung diesen Räten verantwortlich zu sein hat.
Eine solche Arbeiter- und Bauernregierung, gebildet und im Auftrag des revolutionären Kampfes für Demokratie würde auch vor Aufgaben und Gefahren stehen, die sie selbst über die radikalsten Maßnahmen einer bürgerlich-demokratischen Regierung hinausgehen lassen. Sie muss die Banken und Schlüsselindustrien verstaatlichen, muss den Reichtum, der v.a. vom Armeeoberkommando angehäuft worden ist, enteignen und die Arbeiterkontrollorgane anerkennen, wo sie schon eingerichtet worden sind. Das ist in der Praxis die Anwendung der Strategie der Permanenten Revolution. Sie allein kann nicht nur den ägyptischen Massen Demokratie bringen und gewährleisten, sondern auch den Weg zur sozialistischen Umwandlung des Landes und schließlich der ganzen Region ebnen.